vonErnst Volland 08.07.2024

Vollands Blog

Normalerweise zeichnet, schneidet, klebt Ernst Volland, oder macht Bücher. Hier erzählt er Geschichten.

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Kapitel 18

Anstatt in Richtung Lido zu gehen, drehe ich um und gehe noch einmal zurück zum Kiosk, um drei weitere Exemplare der „Zeitung“ zu kaufen. Ich schlage in jedem Exemplar der „Zeitung“ das Feuilleton auf und vergewissere mich, dass der Artikel in jeder Zeitung abgedruckt ist. Diese Nachforschung ist eigentlich unsinnig, sie drückt jedoch mein Erstaunen über die Existenz des Artikels aus. Mehr nicht. Noch nie hatte ich bisher mit meinen eigenen künstlerischen Arbeiten eine ähnliche Würdigung erhalten. Die Blaise Bilder waren aus dem hohlen Bauch gemalt. Die dafür benutzen Malgründe, wie Papierbahnen, Rollos und Pappen reduzierten die Kosten der Aktion, sollten jedoch auch auf eine gewisse Unbekümmert im Umgang mit künstlerischen Materialien hinweisen. Daher auch der Begriff der Frische im Titel der Ausstellung. „Frische Malerei“ bezieht sich natürlich auch auf die Malerei selbst.

Während der Arbeit an den Bildern erinnerte ich mich an Experimente mit malenden Affen. Denen hatte man in einer wissenschaftlichen Untersuchung Pinsel in die Pfoten, oder sagt man Tatzen oder Hände, gedrückt, Farbtöpfe aufgestellt und Papier ausgelegt. Die Affen malten gestische farbige Bilder, natürlich alle abstrakt. Eine Affe ist nicht in der Lage, eine Komposition zu gestalten. Isoliert man das Experiment von den Affen und präsentiert einem Publikum einzelne Werke, so wird der Betrachter im Publikum das Bild für eine geistige kreative Leistung halten. Der Bildungsgrad des jeweiligen Betrachters spielt dabei keine Rolle. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass Kunstexperten wie Kunstkritiker oder Kunsthistoriker, einzelne Bilder der Affen als künstlerische Leistungen von Menschen überzeugend auslegen können. Die Experten müssen dabei nicht lächerlich wirken. Trennt man einige selektierte Bilder sauber von ihrer affigen Entstehung und legt eine neue narrative Folie auf das gestaltete Elaborat und formuliert darüber hinaus diese neue Aura in Gegenwart der Kunstexperten, so hat der Kunstexperte wenig Chancen, einen Affen als Urheber zu erkennen. Oder irre ich mich in meiner Vermutung?

Ich bin kein Affe und ich kann auch nicht malen wie ein Affe. Meine gestische und auch figürliche Blaise Malerei führt automatisch und zwangsweise zu kompositorischen Ergebnissen. Der Affe hat keine künstlerische Ausbildung, dennoch ist er in der Lage, Farbe auf das Papier zu setzen, eine Leistung, die andere Tiere nicht erbringen können. Wählt ein Fachmann aus einer Produktion von zwanzig Bildern eines Affen, etwa zwei bis drei Bilder heraus, die auf dem Niveau einer menschlichen künstlerischen Produktion liegen, so kann dieser Fachmann auch das Publikum überzeugen, es handele sich um hochwertige künstlerische Werke. Andererseits kann ein wissenschaftlicher Verhaltensforscher von Tieren die Behauptung aufstellen, Affen sind in der Lage, künstlerische Arbeiten auf Augenhöhe mit menschlichen Leistungen zu produzieren.

Sehr interessant wäre ein weiteres Experiment. Hat man 20-30 von Affen gemalte Bilder zur Auswahl, genügt diese Anzahl, um eine komplette Ausstellung zu zeigen. Meine These ist: Isoliert man die Entstehungsgeschichte der Bilder und erfindet eine Person mit einer eigenen neuen und glaubwürdigen Vita für die Affenbilder, wäre die Eröffnung einer Ausstellung möglich. Ist die Ausstellung realisiert, können alle üblichen Reaktionen einer künstlerischen Ausstellung erwartet werden: Die Anwesenheit eines interessierten Publikum, die Rede eines Kunstexperten, sowie der Text eines Kritikers in irgendeiner Zeitung.

Diese Gedanken über Affenmalerei begleiten mich auf meinem Fußweg ins Lido. Am Himmel ist keine einzige Wolke zusehen. Die Blätter an den Bäumen erreichen heute ihre maximale Ausdehnung. Meine Selbstreflektionen, die erneut um das Affenexperiment kreisen, werden beim Blick in die satten, immer noch hellgrünen Baumkronen, von neuen Gedankensträngen abgelöst.

Die Sonne steht hoch am Himmel und lässt die jungen Blätter wie blitzende Kristalle erscheinen. Jetzt beschäftige ich mich wieder mit meinem Blaise Vincent Fakeexperiment.

Mit meinen Gedanken bin ich nahezu auf mich selbst gestellt, führe eigenen Dialoge. Jack ist immer weniger verfügbar, seit er Charlotte kennen gelernt hat. Das werde ich Jack auch nicht vorwerfen. Er ist ein wunderbarer Gesprächspartner. Mit dem eigentlichen Fake hat er aber nichts zu tun. Fragen muss ich selbst beantworten.

Ich spüre, wie die gedruckte positive Kritik in der „Zeitung“ mir transformatorisch zusetzt und in mir arbeitet. Meine künstlerische Blaise Vincent Malerei mutiert in eine noch fragile Identität mit meiner erfundenen Figur. Nicht Vlavio, der Blaise verkörpern soll ist Blaise, sondern ich selbst bin jetzt Blaise Vincent, geadelt durch die schwarz auf weiß gedruckten Sätze des „Zeitungs“ Kritikers. Ich bemerke, wie die eigentliche Intention meines Fakes, nämlich mit der Erfindung eines fiktiven Künstlers die Mechanismen des Kunstmarktes aufzudecken, ein wenig ins Schwanken gerät. Die positive Kritik trifft empfindlich den innersten Kern meiner Intention.

Ich bin über die Wirkung, die das bloße Erscheinen des Artikels in der frühen Phase des Fakes auf mich macht, überrascht. Der Artikel irritiert mich. Er lenkt die ursprüngliche Absicht des Fakes in eine Richtung, die ich nicht akzeptieren kann. Der Artikel schmeichelt mir, er beginnt mich zu verführen. Ich beginne, mit dem Gedanken zu spielen, die eigentliche Identität des französischen Künstlers nicht preis zugeben und sie, wenn möglich, für immer am Leben zu halten. Könnte ich ein Leben lang Blaise Vincent sein? Die ersten schmeichelnden Sätze korrumpieren mich. Das darf ich nicht zulassen. Auch wenn ich dabei sehr viel Geld verdienen könnte.

Es ist immer das gleiche Spiel. Ein Künstler will Anerkennung und Geld. Und auch ich sehne mich danach, beachtet zu werden und finanziell abgesichert zu sein, kurioserweise jetzt als Blaise Vincent.

Bei einem doppelten Espresso lese ich den Artikel noch einmal im Lido in aller Ruhe. Ich möchte den Text über Blaise Vincent Roberto zeigen, verzichte dann aber doch, Roberto damit zu bedrängen, da ich die eigentliche Geschichte, die hinter Ausstellung des Künstlers steckt, nicht offen legen kann. Ich muss mich beherrschen, und den Wunsch, mich darüber zu äußern, zurücknehmen. In der Öffentlichkeit ist die eindeutige Trennung von mir und Blaise dringend notwendig. Nirgendwo darf zu erkennen sein, dass ich der Urheber der Blaise Malerei auch nur sein könnte. Die geringste Andeutung, dass auch nur ein Strich der Werke von Blaise Vincent von mir sei, werde ich unterbinden. Durch mein Verhalten darf der Fake nicht gefährdet werden.

Der Fake ist mein Kunstwerk. Die Bilder sind ein Teil des Kunstwerkes.

Roberto verlässt seinen Standort an der Kaffeemaschine und bringt mir ohne Aufforderung einen einfachen Espresso, stretto, wie ich ihn mag. Das Lido ist fast leer. Ich sitze direkt unter einem an der Decke hängenden Lautsprecher der unsichtbaren Musikanlage, dafür aber mit einem freien Blick auf die Straße. Manchmal, und eben auch heute, ist die Musik einfach zu laut.

Roberto, ich komme jetzt schon seit ein paar Jahren in eure super Kneipe. Es gibt eine Sache, die kann ich nicht verstehen. Warum ist die Musik wieder so laut?

Espresso isse von Haus. Was ist mit neue Frau, hast du neue oder isse wieder alte? Roswita will wisse, ich aber auch. Mache subito Musik aus.“

Isse zu laut, Roberto ich nix verstehen, wenn sprechen, nicht mache aus Musik. Spaß beiseite, danke für den Espresso, du machst den besten in der Stadt. Aber ich möchte ihn selbst bezahlen.“

Du mit niemanden sprechen, warum Musik dann leise und was ist mit Fraue, keine Lust zu sprechen?“

Carol habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Ich vermisse sie sehr, sehr. Sie ist nicht zurück. Ich arbeite viel und das ist gut. Ich muss warten. Sie kommt sicherlich zurück.“

Eine Frau betritt in diesem Augenblick das Cafe und ich erinnere mich, sie schon einmal gesehen zu haben. Mir fällt jedoch nicht ein, wann und wo. Sie setzt sich mit dem Rücken zu mir in die gegenüberliegende Ecke des Cafes und jetzt fällt es mir ein. Es ist die Frau, die mir vor einigen Tagen in einem grauen Kostüm vor dem Knopffachgeschäft begegnet ist und die mich nicht nur stark an Carol erinnerte, sondern mit der ich Carol im ersten Moment verwechselt hatte. Sie trägt heute eine weiße Bluse und einen dunkelblauen, schlichten Rock. Die blonden Haare sind hoch gesteckt. Sie werden durch zwei braune, gut sichtbare Haarkämme zusammen gehalten. Meine Augen bleiben an der Rückenansicht hängen. Ich beginne, noch einmal den Artikel über Blaise Vincent zu lesen, unterbreche die Lektüre nach der ersten Zeile und richte meinen Blick wieder auf den Rücken der Frau. Ich starre auf den Kamm, der die Haare zusammen hält. Ich sehe Carol vor mir, zehn Schritte von mir entfernt. Ich sehe mich selbst, etwa sechs Jahre alt, ein Junge, der vor der nur einen Spalt geöffneten Tür des Schlafzimmers meiner Eltern steht. Mein Blick fällt auf den nackten Rücken meiner Mutter. Sie sitzt auf der Bettkannte und kämmt ihre langen blonden Haare. Ich schaue gebannt im geschützten Halbdunkel des Wohnungsflurs auf ihre Bewegungen. Noch nie habe ich meine Mutter unbekleidet gesehen. Meine Mutter greift jetzt mit einer Hand die gekämmten und gescheitelten Hälften ihrer Haare und schiebt diese mit beiden Händen am Hinterkopf zusammen. In einer routinierten Bewegung sichert sie das auseinander fallende Haar mit einem kurzen Kamm, der während der Pflege zwischen den Lippen steckte.

Eine der ersten Abbildungen der Moderne, die mich faszinierte, ist ein Rückenakt des Malers Hans Purrmann. Das Bild muss mich noch in der präpubertären Phase beeindruckt haben, vielleicht als Zehnjähriger. Die Abbildung zeigt eine Frau mit über den Kopf gestreckten Armen, die soeben ihre hoch gesteckten Haare mit einem Kamm stabilisiert. Die reine Erotik und viel suggestiver als ein Foto. Aber das wusste ich als Zehnjähriger nicht. Damals, an der Schwelle zur Pubertät hatte ich nur etwas völlig neues und rätselhaftes empfunden, ohne zu wissen, wohin die Reise gehen wird. Der erotische Rücken lieferte das Ticket für eine abenteuerliche Fahrt.

Ich tauche einen kleinen Löffel in den gezuckerten braunen Boden der Espressotasse. Die frühste gelegte Droge verabreichen die Eltern in Form von Süßigkeiten. Genussvoll schiebe ich den Löffel in den Mund. Ein Espresso ohne Zucker schmeckt mir nicht. Warum lasse ich den Rest nicht auf dem Boden der Tasse zurück? Zu viel Zucker ist ungesund, das ist mir bekannt. Das muss mit meiner Kindheit zusammen hängen.

Die Frau mit dem Purrmann Rücken steht auf und setzt sich auf einen anderen Stuhl. Jetzt bedeckt das volle Sonnenlicht den ganzen Körper. Ich schaue an der Frau vorbei auf einen imaginären Punkt an der Wand. Aus den Augenwinkeln werfe ich eine kurzen Blick auf ihr Gesicht. Es ist die gleiche Frau, die ihn vor dem Knopfladen angesprochen hat. Ich versuche zu lächeln und mache die Andeutung einer Verbeugung oder eines Grußes, um auf mich aufmerksam zu machen und an ihre Freundlichkeit vor dem Laden zu erinnern. Lächelt sie zurück?

Der Blick erweckt in mir ein völlig abgestorbenes Gefühl. Er öffnet eine Tür zu anderen Frauen, außerhalb des Einflussbereichs von Carol. Kann es einen Ersatz für Carol geben? Nein. Aber der Blick verrät mir, dass es noch ein emotionales, erotisches Leben nach Carol geben könnte. Frauen entscheiden intuitiv in drei Sekunden, ob ihnen ein Partner gefällt. Männer sind langsamer. Ich möchte keine neue Beziehung, ich möchte Carol zurück. Leider hat sich Carol so gut wie in Luft aufgelöst. Ich kämpfe mit einem Phantom.

Ich stehe auf, gehe zum Tresen und zahle. Der Weg dorthin führt nahe an der Purrmann-Frau vorbei. Von vorn hat sie überhaupt keine Ähnlichkeit mit Carol. Die blauen Augen stehen etwas eng zusammen. Der rote Mund mit seinen vollen Lippen dominiert das ganze Gesicht und lässt dabei die kurze kräftige Nase verschwinden. Sie ist noch keine vierzig Jahre alt. An den Händen stecken verschiedene Ringe, um den Hals trägt sie auffallend viele lange Ketten, rote, grüne, weiße, grüne. Vielleicht ist das zur Zeit in Mode, vielleicht führt sie eine Boutique. Ich werde es erfahren. Den Kopf leicht von Roberto abgewandt, sage ich mit lauter Stimme, so dass jeder im Raum meine Information hören kann.

Bis morgen Roberto, exakt zur gleichen Zeit. Dein Espresso ist einfach Klasse.“

Dann bezahle ich und gehe in die Galerie.

Ich werde den Zeitungsartikel über Blaise Vincent in der Galerie an über hundert verschiedene Adressen schicken. Einige davon erhalten ein persönliches Anschreiben von Mantem, wichtige Personen wie der Kultussenator, verschiedene Museumsdirektoren und Abteilungsleiter. Zusätzlich zu den Briefen verschicke ich Emails. Das wird heute viel Arbeit. Sicherlich unterstützt mich Charlotte. Sie hat dann die Aufgabe, alle Angeschriebenen nach zwei Tagen anzurufen und nachzuforschen, ob das Anschreiben mit dem Artikel auch an den richtigen Adressaten gekommen ist. Charlotte wundert sich über mein Engagement für einen einzelnen Künstler. Ich hatte jedoch bei Mantem schon vorgearbeitet und grünes Licht für die Aktion bekommen. Mantem sieht sich auf der Siegerstraße.

Wir sind jetzt auf einem Niveau, das man ausbauen muss. In ein, zwei Jahren spielen wir ganz vorn mit, auch auf den Messen in Köln, Basel und Miami. Alles muss raus, richtig so. Soll Frau Charlotte doch Überstunden machen.“

Mantem berichtet mir auch vom Verkauf des „Gallischen Hahns“. Ich kann ihn davon überzeugen, Frau von Alvensleben das Bild sofort zu liefern und die laufende Ausstellung mit einem neuen Bild von Blaise Vincent zu ersetzen. Außerdem schlage ich vor, das Bild persönlich bei von Frau von Alvensleben abzuliefern.

Mantem reagiert reserviert auf diesen Vorschlag, ruft dann aber doch die neue Besitzerin des „Gallischen Hahns“ an und übergibt mir dann den Hörer, um einen Termin für den nächsten Tag zu vereinbaren. Zuerst bietet sie mir einen frühen Termin am Morgen an, den ich ablehne, da ich mir ein mögliches Treffen mit der vermeintlichen Boutiquebesitzerin im Lido offen lassen will. Wir einigen uns auf zwölf Uhr mittags in ihrer Villa in Zehlendorf.

Mantem fragt mich neugierig, warum ich persönlich das Bild bringen möchte. Ich erzähle ihm etwas von Kundenpflege und Spezialservice innerhalb unserer Dienstleistungsgesellschaft und verschweige meine eigentliche Neugierde. Ich möchte einfach mehr über die Person wissen, die mein Blaise-Vincent-Bild gekauft hat.

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