Ernst Volland trifft Michel Gaißmayer am 1. März 2022 zu einem Gespräch. Teil 1
Ernst: Ich sitze hier mitten in Berlin-Tiergarten mit Michel Gaißmayer zusammen, einem ausgewiesener Kenner der europäischen Politik, der deutschen Politik und der russischen Politik. Eine wichtige Stimme in diesen schwierigen Zeiten. Meine erste Frage. Der 24. Februar 2022, wie hast du den erlebt?
Michel: Nachrichten hörend, um herauszufinden was vorgeht. Der Tag war einfach ein Schock und das erste was mir einfiel, war ein Gedicht meines Freundes Jevgeny Jevtushenko aus den 60er Jahren, das damals der Stern veröffentlichte:
Meint ihr die Russen wollen Krieg?
Ein Krieg auf dem Gebiet der Ukraine, dort wo wenige Kilometer von Kiew entfernt das Massaker von Babi Yar stattgefunden hat, eingedenk der neun Millionen Toten im 2. Weltkrieg. Dies erneut zu einem Schlachtfeld zu machen, das war ein Schock, den man oder den ich nicht für möglich gehalten hätte.
Ernst: Du kennst ja viele Persönlichkeiten aus dem russischen Leben, aus Kultur und Politik. Du hattest auch zu Jewtuschenko ein enges persönliches Verhältnis, kanntes ihn schon länger. Was hätte Jewtuschenko heute gesagt?
Michel: Er hätte gesagt: „Mikele, das ist unglaublich.“ Er hat mir ja in seinem Buch „Stirb nicht vor deinem Ende“ ein ganzes Kapitel gewidmet. 1991 ist er in die USA gezogen, hat bis zu seinem Tod dann hauptsächlich in Oklahoma in Tulsa gewohnt und mit der dortigen Universität zusammengearbeitet. Ein Ergenis davon war die Edition einer großen Anthologie russischer Lyrik. Unser letztes Telefongespräch war:“ Mikele, ich stand jetzt vor der Frage Bein ab oder tot und ich habe mich entschieden Bein ab. Aber du weißt, wie gern ich gelaufen bin jeden Tag. Die Amputation hatte auch einen Vorteil. Ich muss jetzt endlich mal permanent am Schreibtisch sitzen. Leider hast du ja meist nur Übersetzungen meiner Literatur gelesen um dann zu sagen: Die Übersetzung ist schlecht.
Ernst: Du hast gesagt, es war ein Schock. Wieso war es eigentlich ein Schock?
Michel: Zwischen der Drohung und der Realisierung -die Realisierung ist ja sehr oft einfach der Tod der Idee -liegt doch ein weites Feld. Du kannst eine Drohkulisse aufbauen, du musst das auch und du kannst auch zeigen und demonstrieren, dass du stark bist und dass du jetzt einen Schlusspunkt setzen müsstest. Aber wie gesagt, die Realisierung ist der Tod der Idee und damit ist diese Idee, dass man das Geschehen neu in Bewegung setzen kann gestorben.
Ernst: Wenn wir zurückblicken auf dies Russland, wo waren die entscheidenden Fehler wo sind die falschen Weichen gestellt worden in den letzten 30 Jahren von Moskaus Seite aus gesehen?
Michel: Ich denke, man muss weiter zurückgehen und die Periode der Sowjetzeit betrachten. Eine ganz entscheidende Geschichte ist meiner Meinung nach die Tatsache gewesen, dass die Militärindustrie nicht mit der zivilen Industrie verbunden war. Insofern kamen Sputnik, also die Weltraumtechnologie und andere Dinge letztlich der Entwicklung im zivilen alltäglichen Wirtschaftsprozess nicht zugute. Dieser Konflikt ist daher durch Reagens Krieg der Sterne vorangetrieben worden, denn mit diesen Aufrüstungs- und Allmachtsphantasien wurde die Sowjetunion totgerüstet.