vonDilek Zaptcioglu 02.06.2008

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Der türkische Außenminister Ali Babacan sagte vor ein paar Tagen in Brüssel, daß „nicht nur nichtmuslimische, sondern auch muslimische Bürger Probleme in der Türkei hätten. ihre Religion auszuüben“. Das sorgte natürlich für eine große Debatte im Land selbst.

Wie falsch verstandene „religiöse Praxis“ aussehen könnte, demonstrierten kurz darauf ein paar Dutzend junge Bewohner der Kleinstandt Sapanca – immerhin weit westlich in der Türkei, im Süden Istanbuls. Hier gibt es einen schönen See, weshalb die Rudermannschaft der Universität Ankara kam umzu trainieren und sich hier auszuruhen, darunter drei Ruderer der türkischen Nationalmannschaft.

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Der Streit brach wegen einer Kleinigkeit aus, die Parkgebühr des Mannschaftsbusses. Viel wichtiger sind jedoch die Schlachtrufe der erbosten Jugend gewesen, die mit Schlagstöcken und Steinen auf die Sportler losging: „Hier wird nicht in kurzen Shorts und engen Gummianzügen herumgelaufen, Ihr Gottlosen!“ (Allahsizlar!)

Das Resultat: Mehrere Verletzte, drei von ihnen krankenhausreif geschlagen, die Ruderer kehren unter Schock nach Hause zurück und die drei Nationalsportler verzichteten auf die Teilnahme bei dem darauffolgenden Wettkampf.

Bei den Turnübungen zum „Fest der Jugend“ am 19. Mai in Manisa, der Heimatstadt des ehemaligen Parlamentspräsidenten und engem Freund Erdogans, Bülent Arinc, wären die jungen Frauen „viel zu leicht bekleidet“ gewesen, mokierten Arinc und mehrere Abgeordnete der AKP.

„Nein nein, nicht angemessen“ schüttelten die Männer den Kopf.

Wieder einmal und immer noch und noch mehr als früher: Nein nein nein! Olmaz!

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Aber zurück zu der Behauptung Babacans, daß die „Muslime“ in der Türkei „ihre Religion immer noch nicht frei ausüben können“.

Was hat er damit gemeint? Viele ärgerten sich, Liberale wie der Sozialwissenschaftler Tarhan Erdem oder Hürriyet-Chefredakteur Ertugrul Özkök genauso wie altgediente konservative Politiker Süleyman Demirel, der wahrlich zu keiner „Elite“ angehört und seinen Namen als „der Schafhirt Sülü“ in die türkische Geschichte eingraviert hat. 

„Nennt mir ein einziges Beispiel!“ fragt Demirel, der 30 Jahre lang das Land regierte, und: „80 Tausend Moscheen dieses Landes dienen täglich der Gemeinde, fünfmal am Tag wird zum Gebet aufgerufen, im Ramadan wird gefastet, es wird gepilgert, es wird Zekat vergeben – also was fehlt?“ Worin sind Muslime eingeengt?

Was fehlt, behauptet Özkök, sei eben die Einführung der Schariah, das heißt, die Anwendung religiöser Gebote im Alltag – wie in Saudi Arabien, wo gerade ein Türke auf seine Hinrichtung wartet, weil er im Streit mit Einheimischen „Gott beleidigt“ haben soll.

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Gerade verbot ein Gericht den einzigen und wichtigsten Verband der Homosexuellen in der Türkei, Lambda, weil er „gegen die öffentliche Moral“ verstöße.  

Wir leben in einem Land, in dem sich die Frauen vielerorts gar nicht mehr so kleiden können wie sie wollen. Gleichzeitig werden die Einkaufszentren und Shopping-Meilen Istanbuls immer voller mit verhüllter Schickeria, die vorzugsweise Burberry-Kopftücher, -Handtaschen und -Schuhe (im gleichen Schottenmuster!) trägt, während Millionen unter der Armutsgrenze leben.

Wo die Arbeitslosigkeit steigt und die armen Arbeiter in den Werften von Tuzla wie die Fliegen sterben, während sich die neureichen „muslimischen“ Reeder ihren Söhnen ganze Strände vor Istanbul kaufen.

Aman Allahim, sage ich: Schütze die Gläubigen vor der Korruption durch den wilden Kapitalismus und gib ihnen genug Verstand, die Essenz des Glaubens wiederzuentdecken, die sich nicht in der Rocklänge erschöpft! Hilf zu begreifen, daß große Villen mit Swimming Pools und das Tragen von Burberry-Kopftüchern nicht religiöse Freiheit und eigentlich sehr viel unmoralischer sind als Ruderer-Shorts.

 

 

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