vonElisabeth Wirth 15.01.2011

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Im Badezimmer einer Freundin hängt ein Schild, auf dem steht: „Vorwärts, nach weiter“. Und es geht vorwärts, zumindest weiter, zumindest in ein neues Jahr. Willkommen in 2011. Sind wir schon angekommen?

So surreal kam mir Weihnachten und Silvester noch nie vor, wie in diesem letzten Jahr. Da rauschten und flimmerten zwar Jahresrückblicke, da köchelte der Glühwein, da dufteten die Plätzchen, da kamen die euphorischen Umsatzprognosen des Einzelhandels und die weihnachtlichen Kreditangebote der Banken, da lag sogar Schnee. Und doch keine Besinnlichkeit, keine Weihnachtstimmung, nur das-musst-du-noch-machen-Dogma in meinem Kopf, innerlich wie ein Duracel-Häschen, das auch mit den letzten Reserven noch fleißig hoppelt, bis mich dann zwischen Weihnachten und Silvester eine Erkältung gänzlich ausnockte und mir fast komatöse Entspannung brachte.

Das letzte Jahr, Erdbeben in Haiti, Skandal um die Katholische Kirche, iPad, Kundus-Affäre, Wechsel im Kabinett, Ölpest im Golf von Mexiko, Vulkanausbruch, Euro-Krise, Lena, Gaza-Streifen, Rücktritte, Wikileaks, Fußball-WM, Loveparade, Flut in Pakistan, Grubenunglück + Happy End, Tod von Christoph Schlingensief, Atomlaufzeiten, Sarazin, Integrationsdebatte, Wildsau – Gurkentruppe – Hochkonjunktur politischer Satireformate, Stuttgart 21, demonstrierende Wutbürger, Terror, Grundrauschen, Gesundheitsreform, Pisa, Dioxin-Skandal – belastetes Schweinefleisch kam nicht in Umlauf – kam vielleicht doch in Umlauf – wurde wahrscheinlich schon verzehrt, Flut in Australien, Amoklauf in den USA, Aufstand in Tunesien, Unabhängigkeitswahlen im Sudan, war da noch was? Ach ja, irgendwo dazwischen das neue Jahr.

Zu Silvester sollen die alten Geister vertrieben werden. Silvester ist Symbol für Hoffnung, Wechsel, Veränderung. Das schert die Welt doch wenig. Die Skandale, die Katastrophen, uns. Wir alle sind Duracel-Häschen die fleißig hoppeln nach Weiter. Aber was ist dieses Weiter? Wie soll es aussehen?

Christoph Hein fordert uns Jungen in der „Zeit“ auf, es anders zu machen als die Alten. Wir sollen neue Götter finden, nicht denen folgen, die Effizenz, Wirtschaftlichkeit, Rendite heißen.

Doch wir sind mit diesen Schlagworten aufgewachsen. Wir sind mit dem Diktat der Flexibilität und der unbegrenzten Möglichkeiten aufgewachsen. Wir leben in einer Welt in der alles höher, schneller, weiter geht. Wir sind zum permanenten Optimieren verteufelt.

Und haben wir überhaupt die Zeit, um uns von den Alten zu emanzipieren?

Wir hetzen durch die Jahre, als gebe es einen Preis für die, die am schnellsten am Ende angekommen sind.

Entspannung sei die neue Heilsformel unserer westlichen Gesellschaft geworden. „Fuck it“ der Ausdruck eines neuen spirituellen Wegs, wie ein Buch uns nun verspricht. Wir haben scheinbar eine Sehnsucht nach Entspannung. Wir wollen innehalten, mal runterkommen, für einen Augenblick das Hamsterrad verlassen, unsere Scheuklappen abnehmen, nach rechts und links und oben und unten und vor und hinter uns gucken, uns Gedanken machen.

„Fuck it“ wird uns nicht den Druck nehmen, immer funktionieren zu müssen. Wir brauchen Entspannung und Ruhe, die Fähigkeit auch mal lassen zu können, den Mut nicht permanent per Telefon, Mail, Facebook, Xing, Skype, SMS verfügbar zu sein. Dann werden wir auch nach weiter definieren können.

Wir werden uns dann vielleicht nicht mehr am Ende eines Jahres fragen: Wie, das ist alles in den letzten 365 Tagen passiert? Wir werden nicht mehr das Gefühl haben, dass die Zeit in einem Liedschlag an uns vorbeirast.

Mache Erkenntnisse klingen Klischeehaft, klingen einem spirituellen Tagesblattkalender entnommen. Weniger Druck, mehr Sein. Wenn die Sonne scheint, geh raus. Was du heute nicht schaffst, schaffst du eben morgen. Wochenende ist Wochenende. Drei schöne Dinge an einem Tag.

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