Als Humanismus bezeichnen wir jene voraufklärerische europäische Denkbewegung, die abseits von Kirche und Hof, ja oft im Widerspruch zu diesen nach menschenwürdigen Lebensumständen für alle fragte. Unter Humanismus verstehen wir jene frühbürgerliche kulturelle Bewegung, deren Exponenten von der Entwicklungs- und Bildungsfähigkeit des einzelnen durchdrungen waren, so dass sie ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse in den Dienst der Allgemeinheit stellten.
Der kulturelle Aufbruch des Humanismus verbindet sich mit den Namen so berühmter Gelehrter wie Ramon Llull (1232-1316) auf Mallorca, Desiderius Erasmus Roterodamus (1466-1536) in den Niederlanden, Jana Amose Komenského (1492-1670) in Böhmen, Michel des Montaigne (1523-92) in Frankreich. Diese Männer waren Moralphilosophen, waren Schriftsteller, Juristen oder Politiker; sie bekämpften die Hexenprozesse und traten für Toleranz und die Befreiung der Persönlichkeit von feudalen und religiösen Fesseln ein.
Den Humanisten des Mittelalters und der frühen Neuzeit lassen sich in späteren Zeiten noch Giambattista Vico (1668-1744) und Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799) hinzuschlagen. Auch das Wirken dieser beiden Köpfe zielte ja in erster Linie auf Annäherung im Verstehen, nicht auf eine klassifikatorische Abschliessung und Ruhigstellung des neuen Wissens. Auch Vico und Lichtenberg versuchten die Denkhorizonte ihrer Zeit zu erweitern, in dem sie in ihren Erkenntnissen den Dynamisierungsfaktor geschichtlicher Prozesse sahen.
Warum kennen wir also grosse Humanisten aus Palma und aus Rotterdam – aber nicht einen einzigen aus Wien? Warum zitiert heute alle Welt Lichtenberg auf Kalenderblättern, während aus dem geistigen Zentrum der Habsburgerherrschaft vor 1900 nicht ein einziger Stehsatz in das kollektive Gedächtnis eingegangen ist?
Humanistische Gelehrte hat es ja durchaus auch hier gegeben. Konrad Celtis zum Beispiel; der wurde von Friedrich III zum »Poeta laureatus« gekrönt und von Maximillian nach Wien geholt. Celtis gründete die literarische Donaugesellschaft Sodalitas litteraria Danubiana, er publiziert Tacitus und Roswitha von Gandersheim.
Aber, Ach! – Diese Nähe zum den katholischen Herrschern, sie hatte einen bitteren Preis. Die Konformität liess nichts in den Werken reifen, was über die eigene Zeit hinaus von Belang gewesen wäre.
Der calvinistische Botaniker Carolus Clusius erforschte fleissig die Alpenflora; ihm verdankt Wien 1576 die erste Rosskastanie und 1588 die erste Kartoffel, bevor er die Stadt wegen des erstickenden geistigen Klimas nach Frankfurt und weiter nach Leiden floh.
Der Wiener Humanist Johannes Cuspinian wiederum war Mediziner und Rektor der hiesigen Universität. In seinem Haus, Singerstrasse 10, versammelte sich besagte Soldalitas Danubiana. Cuspinian gehörte so sehr zur dünnen habsburgerfrommen Oberschicht des Landes, dass er zum Dank dafür ein Grabmahl in St. Stephan erhielt.
Wolfgang Lazius wiederum war der einzige waschechte Wiener unter den Männern, die als österreichischer Beitrag zum Humanismus gezählt werden. Dieser Arzt und Historiograph promovierte in Ingolstadt, er unterrichtete zunächst Kunst in Wiener Neustadt, versuchte sich dann als Militärarzt in Ungarn und wurde schliesslich Leibdoktor von Ferdinand I. Lazius‘ Wahlspruch »Nicht Falsches zu sagen, und nichts Wahres zu verschweigen« nimmt sich im Vergleich zu den luziden Sätzen eines Montaigne aus wie ein braver Kinderreim.
Lazius schrieb eine Geschichte des mittalterlichen Wiens; man feierte ihn als Mitentdecker der Reimchronik Ottokars von Honeck. Und ähnlich wie Cuspinian erhielt er einen Grabstein in der Peterskirche. Dabei war dieser Gelehrte bei Gott kein heiliger Mann. Er hatte in so manchem Kloster, etwa in Millstatt, ein regelrechtes Hausverbot, weil er wertvolle Handschriften und Buchexemplare aus den Bibliotheken einfach mitgehen liess.
Die Leser ahnen nun, warum der Humanismus Wienerischer Prägung eigentlich nie über die Kirchturmspitzen der Stadt hinausgewirkt hat. Botaniker und geadelte Poeten, Leibärzte und Handschriftendiebe – dieses Personal bildete ein denkbar ungünstiges Fundament für die Verwirklichung neuer Menschheitsideale.
In der Not der nationalen Selbstbespiegelung wird heute selbst ein Alois Josef Fürst Liechtensten zur Denkbewegung des Humanismus gerechnet. Dieser Kunstmäzen und Ritter vom Goldenen Vlies hat sich, man denke, um eine Reform der heimischen Viehzucht verdient gemacht – jawohl Viehzucht, während sich Dante, Petrarca, Hutten und Erasmus unter dem Einsatz ihrer Personen der Finsternis ganzer Jahrhunderte entgegen stemmten. Den einzigen wirklichen grossen Humanisten in ihren Ländern, Jan Comenius – den haben die Habsburger mit Schimpf & Schande vertrieben.
© Wolfgang Koch 2006
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