Zählen Sie sich zur deutschen Kulturintelligenz? Dann lesen Sie bestimmt das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Sie werden das nicht mehr lange tun.
Die meinungsführende Hirnkammer der Deutschen leistet jetzt wöchentlich einen Offenbarungseid. Die heutige Generation von Kulturjournalisten ist einfach zu schwach, um die Qualitätsmaßstäbe hochzuhalten, die vor einem Jahrhundert in heiligem Ernst formuliert wurden.
Karl Kraus, der angriffslustigste Publizist deutscher Zunge im 20. Jahrhundert, geißelte nicht nur Bellizisten und Rüstungsprofiteure im 1. Weltkrieg. Kraus attackierte zeitlebens und von der ersten Ausgabe seiner Zeitschrift »Die Fackel« im April 1899 an jede Art von erkennbarer Cliquenwirtschaft: die Kartelle der Apotheker und der Universitätsprofessoren, die Seilschaften der Freimaurer und der Zuckerbarone, der Dreyfus-Anhänger und der Börsenspekulanten, ganz besonders aber den unaufhörlichen Prinzipienverrat durch die »Journaille«, sprich der Wiener Presse.
Ob es sich nun um Freikarten für Theaterkritiker oder um Journalistenreisen in den Urlaub handelte, ob es um Intendantengeschenke an Rezensenten oder durch Inserate erpresste positive Berichterstattung ging – die »Cultur« um 1900 schien Kraus von Druckerschwärze zerfressen, die Kritik schrankenlos käuflich, die Journalistik ein »Handwerk ohne Überzeugung«.
Für diesen humorbegabten Moralisten war es völlig undenkbar, dass eine seriöse Redaktion Buchneuerscheinungen ihrer Mitarbeiter bewarb; oder dass ein Kunstkritiker eine Ausstellung besprach, für die er nicht, wie alle anderen Besucher, Eintrittsgeld bezahlt hat.
Den literarischen Marktbetrieb sah Kraus 1902 nur von »persönlichen Beinflussungen geleitet«, und er versäumte darum keine Gelegenheit, hinter die Kulissen »dieses Kasperletheaters« zu leuchten.
Dass Kraus mit seiner Geistesgegenwart und diesem Seriositätsanspruch total gescheitert ist, erkennen wir heute nicht erst an schlechten Blättern. Es sind die Intelligenzblätter, die keine Treue zum eigenen Anspruch bewahren, es sind F.A.Z., DIE ZEIT und die Süddeutsche, deren biedermännisches Selbstbild nirgendwo mehr der Wahrheit entspricht. – In allen Häusern des gedruckten Wortes nimmt man jetzt das Geld, wie es gerade kommt.
Am 17. September 2011 kam in der Wochenendbeilage der F.A.Z. die ehemalige deutsche Staatssekretärin für Europa, Miriam Meckel, über eine ganze Seite zu Wort. Die nunmehrige Professorin für Unternehmenskommunikation durfte über vier Spalten die Thesen ihres neuen Buches »Next. Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns« ausbreiten (das Werk handelt übrigens von den neuen, schrecklichen Gefahren des Internets).
Das war durchaus lesens- und bedenkenswert. Aber nun wenige Blätter weiter vorne prangte auf Seite 34 eine große Anzeige des rowohlt-Verlags mit einem weiteren Konterfei der Autorin. Seltsam musste es da zugegangen sein, wenn der freundliche Beitrag, in dem die Kulturredaktion Frau Meckel widerspruchsfrei zu Wort kommen ließ, gleich in derselben Ausgabe mit einer Inseratenschaltung abgegolten wurde.
Dass solche Praktiken im modernen Zeitungsgeschäft keine Ausnahme bilden, zeigte uns in der Folgewoche das F.A.Z.-Feuilleton mit dem neuen Roman »Die Schmerzmacherin« von Marlene Streeruwitz (übrigens schon wieder ein Buch über die neuen, schrecklichen Gefahren des Internets). Am Freitag, den 23. September, über vier Spalten ausführlich besprochen (»eine wichtige politische Intervention«) – am Tag darauf vom 125 Jahre alten S. Fischer Verlag mit einem drittelseitigen Buchinserat vergoldet.
Eine solche Häufung von zufälligen Schaltungen ist ein starkes Indiz für unlautere Vorgänge. Im »Kasperletheater« dieser Kulturberichterstattung wissen offenbar die Verlagshäuser im Voraus, welches ihrer Produkte wo und in welcher Größe besprochen wird. Es kann uns niemand einreden, dass die Marketinabteilungen der Buchkonzerne zufällig den richtigen Zeitpunkt einer redaktionellen Behandlung für das Inserat erwischen, um das p. t. Publikum an seine Kaufmöglichkeiten zu erinnern.
Wer denkt da nicht an Manipulation? Schließlich waren es ja zunächst die PR-Mitarbeiter von rowohlt und S. Fischer, die die Pressemenschen über diese Neuerscheinungen informiert haben; die ihnen Pressemappen, Druckfahnen und Rezensionsexemplare übermittelten. Auch Interviews mit Autoren werden gewöhnlich von den Verlagen eingefädelt.
Im Frankfurter Medienhaus wiederum hat die Anzeigenaquisition ein heftiges Interesse, die Berichterstattung der Redaktion für ihre Anzeigenkunden auszuspionieren. Überall, auch in den besten Blättern unserer Tage, scheint die Chinesische Mauer zwischen Geschäftsführung und Redaktionen wie weggeschmolzen.
Das Zusammenwirken von Buchindustrie und Qualitätsjournalismus funktioniert heute im stillschweigenden Einverständnis beider Seiten. Die begnadete Literaturkritikerin Sigrid Löffler z. B. nimmt bedrucktes Papier nur noch dann zur Hand, wenn der Text vorher mindestens das Lektorat eines Großverlags durchlaufen hat; und auch dann nur mit den Fingerspitzen.
Auf regelmäßigen Konferenzen entscheiden die Verlagsvertreter im Buchhandel darüber mit, welche Titel und in welcher Covergestaltung auf den Markt gelangen. Dem kuriosen Literaturblatt Volltext gelingt seit 2002 regelmäßig das Kunststück, für Vorabdrucke aus demnächst erscheinenden Büchern, also für klassische Werbemittel von Buchverlagen, Geld bei Lesehungrigen abzukassieren.
Die Hohepriesterin der Kritik, die VerlagsvertreterInnenkonferenz, die Vorabdruck-Postille – lauter verlagskapitalistische Instanzen und Institutionen, in denen die »persönliche Beeinflussung«, mit der sich Kraus noch herumschlagen mussten, in Fleisch & Druckerschwärze übergegangen sind.
Schweizer Zeitungen riefen letzte Woche keck eine Renaissance des Feuilletons aus; das ist eine Lüge. Eine Renaissance erlebt nur der Feuilletonismus, also der journalistische Plaudergeist, die sämige Stimmungskritik, die Lust am unverständlichen Sprechen und die unersättliche Korruption. Das »pressverseuchte Zeitalter« brennt ein letztes Mal nach.
Die Leser wandern nämlich längst scharenweise in die Blogsphäre ab. Und es ist nicht diese Dauerverfügbarkeit des Internets, die der konkurrierenden Printkultur heute den Garaus macht. Die Medienunternehmen besorgen es mit ihren selbstmörderischen Geschäftsmodellen schon selber, dass die Leserschaft ihren Redaktionen nicht mehr über den Weg traut.
Karl Kraus jedenfalls würde sich im Grab umdrehen, wenn sein Geist nicht bereits in die virtuelle Welt ausgewandert wäre.
© Wolfgang Koch 2011