Ich habe im Jänner 2007 über Leitners wunderbaren Bildband zum Thema Wien berichtet. Derzeit lässt der Dokumentarist und Reisefotograf seinen 50. Geburtstag feiern, und zwar, während er selbst schon wieder unterwegs ist – per Schiff nach Albanien. »Nach der Eröffnung verreist…« gewissermassen.
Bis Mitte August zeigen zwei Wiener Ausstellungshäuser alte und neue Arbeiten des kleinen dicken Mannes im gelbfarbenen Anzug. »Porträts von Künstlern und anderen Personen, Selbstporträts und Natur« lautet der Titel der Schau im Projekt Space der Kunsthalle am Karlsplatz (dazu ist ein Katalog im Pocketformat erschienen). »Love, Death + Passion« hat Leitner seine Schau in der renommierte Galerie Steinek, 1010 Wien, Eschenbachgasse 4, betitelt.
Keine Frage, das Interesse ist berechtigt! Schliesslich gilt Leitner schon lange nicht mehr als Geheimtipp. Er ist fixer Bestandteil der österreichischen Szene für Autorenfotografie. Der Fotograf hat in den letzten Jahren gemeinsam mit Heinz Cibulka und Valie Export ausgestellt, aber auch mit internationalen Grössen wie Nan Goldin; er ist in den wichtigsten europäischen Fotosammlungen vertreten und produziert Kunstbücher am laufenden Band.
Aus Anlass dieser beiden neuen Schauen im folgenden ein paar kritische Anmerkungen. Schliesslich hat Leitner nun jenen Erfolgsstatus erreicht hat, wo KuratorInnen, KritikerInnen und RezensentInnen nur mehr voneinander abschreiben, ohne die tiefere Schichten seines Werkes überhaupt noch zu befragen.
FLANEUR ZWISCHEN WELTEN
Die Katalogautoren und die Berichterstatter der Medien, sie parfümieren Paul Albert Leitner gern mit dem Wort Flaneur. Da ist nicht ein Schreiberling, nicht ein Eröffnungsredner, der den gebürtigen Tiroler nicht einen »unerschrockenen Flaneur« oder einen »Flaneur zwischen den Welten« nennt.
Ich sehe diesen Street Photographer in einer anderen Rolle. Denn er bewegt sich weder entspannt noch leichtfüssig durch die Welt, sondern defensiv und leidend wie ein guter Katholik. Die Künstlergestalt Leitners gleicht eher einem heiligen Sebastian der österreichischen Fotokunst als dem berühmten zweibeinigen Gewächs in den städtischen Passagen des 19. Jahrhunderts, das Flaneur genannt wurde.
Flanieren setzt bekanntlich die Lust voraus, anders zu sein. Davon ist bei diesem neuen Odysseus wenig bis gar nichts zu merken. Leitner kultiviert seine soziale Marginalität ausgesprochen träge und umständlich, er schimpft und grantelt über das Leben wie ein Pensionär inmitten seiner Umzugskartons ins Altenheim.
Jedes Hindernis, jede Baustelle erscheinen diesem Bildermacher eine unüberwindlich Provokation, jedes neue Umleitungsschild wirkt auf ihn, als hätte man es extra für ihn aufgestellt. Leitners künstlerische Praxis der Weltaneignung hat nichts Burleskes und wenig Humorvolles an sich. Das unterstellen ihm nur die eloquenten Vermarkter.
Leitners eigene Formulierungen sind träge und schleppend, seine Rede kippt ständig in Pathosformeln, die mit dem grossen »Ich…« beginnen. Es stimmt schon: Dieser fotografische Selbst- und Fremddarsteller holt die übergrosse Gesten aus vergangenen Bildsprachen in die Gegenwart zurück, um sie zu analysieren – doch im Interview klagt er kleinlich über »wildgewordene Radfahrer«, »teure Lokale«, »teure Getränke«, den »Turbokapitalismus«, er jammert in einer Tour.
DER SPIESSER UNTERWEGS
Anders als Henri Cartier-Bresson, der Fotoklassiker des 20. Jahrhunderts, der eigentlich Maler werden wollte, und anders als der Reiseschriftsteller Bruce Chatwin reist Paul Albert Leitner als Tourist und Eindringling in ein fremdes Land. Cartier-Bresson und Chatwin lebten immer, so gut es ging, wie Einheimische – nicht neuen Bildmotiven, sondern neuen Lebensrhythmen auf der Spur. Cartier-Bressons Frau, eine javanische Tänzerin, begleitete ihn auf den Asienreisen durch Indien, Burma, Paktistan, Taiwan, Indonesien.
Dieser Ansatz liegt völlig konträr zu dem Leitners. Die Reisephilosophie des Wiener Dokumentaristen lautet einfach: »Nur kein Risiko!« Unterwegs pflegt er dieselben Gewohnheiten wie zu Hause in Wien-Heiligenstadt, er verzehrt nachmittags seine Melange mit Mehlspeis‘, betritt jedes Hotelbad nur in seinen mitgebrachten gelben Badesschlapfen. Exotisches lässt Leitner nur zu ganz bestimmten Stunden an sich heran, die er »Fotorundgänge« heisst.
KUNST STATT LEBEN
Leitners seit 1999 unermüdlich vorgetragenes Arbeitsmotto lautet »Kunst und Leben. Ein Roman«. Ich erinnere mich, dass er dieses Motto nicht als Anspielung auf Oswald Wieners Epochenwerk »Die Verbesserung von Mitteleuropa, Roman« (1969) verstand. Er konnte das gar nicht verstehen, er kannte Wiener nicht.
Inzwischen hat Leitner die Wissenslücke geschlossen, ja er hat bildungsmässig derart mächtig aufgerüstet, dass man ihn gut und gerne einen Bildungsreisenden alten Schlages nennen darf. In Rumänien besuchte er Geburtsort Emil Ciorans, in der Steiermark Peter Roseggers Waldheimat, in Havanna sass er in der Küche von Ruben Gonzales, usw.
»Fotografie zeigt uns, wie der Dumme die Welt sieht«, hat der kolumbianische Aphoristiker Nicolás Gómez Dávila einmal geätzt. Das scheint wie ein Kommentar auf das Werk des Wieners zu passen. Tatsächlich muss man ja einigermassen naiv sein, zu glauben, man könne den Ort fotografieren, den ein Dichter besungen hat.
Ich meine, Künstler sind grundsätzlich schlechte Interpreten ihres Werkes. Ihr Kommentar besagt meist weniger über ihre Arbeit, als sie denken. Das ist kein Unglück! Denn ein Werk oder eine Werkgruppe kann auch gegen die urprünglichen Motive und Intentionen des Schöpfers ästhetischen Reiz entfalten. Das war bei Legionen von europäischen Kirchenkünstlern der Fall, von der Romanik bis zu den Nazarenern – warum sollte das heute anders sei?
Von »Kunst und Leben« lässt sich bei Leitner sehr schwerlich sprechen. Richtiger wäre: »Kunst statt Leben« oder »Leben für die Kunst«. Denn jeder Gedanke, jedes Telefonat, jede Handlung dieses Fotografen kreist nur um das eine: das Anwachsen der gesammelten Fotonegative zu einem Berg von der Grösse des Kilimantscharo.
Leitner kann kein Gespräch über irgendein anderes Thema als seine Kunst führen. – Sinnliche Genüsse sind ihm fremd, ja unerträglich, sofern sie keine neue Fotoidee abwerfen. Leitner hat weder Familie, noch besitzt er Mobiltelefon, Segelboot oder Immobilien, er sammelt keine Pilze, füttert keine Haustiere, Leitner zündet keine Sturmkerzen an, wenn Gewitterwolken am Himmel aufziehen, er kultiviert keine Leidenschaften, ausser eben der einen: Fotografieren.
Der Mann, der pünktlich bei jedem Schönwetter mit der Kamera in der Umhängetasche loszieht und der dann seine Themen und Unterthemen abschreitet wie ein Bürokrat, hört viel Musik und sitzt täglich einmal in der Badewanne – aber sonst? Ob der Vatikan sich als einzige Kirche versteht oder die EU uns alle vor Bioterrorismus warnt, ist Herrn Leitner Schnuppe, wenn ihm nur die Füsse nach seinem Fotorundgang nicht zu sehr schmerzen.
Diese gehetzten Kunstproduktion, diesem notorische Verewigungstrieb mit der Kamera, haftet etwas Zwanghaftes an. Doch anders als Leo Navratils PatientInnen in der Anstalt Gugging drückt Leitner keine psychischen Störungen in seiner Arbeit aus. Sein Leben geht so gründlich im Bilderschiessen, in Rahmenbestellen und Galeriepostversenden auf, dass gar keine kunstfreie Zone im Alltag mehr übrig bleibt, also auch kein Leben, das er in seiner Kunst irgendwie ausdrücken könnte.
REISEPHILOSOPHIE
Traurig, werden Sie sagen, beklagenwert jeder, der nicht sein Leben, sondern seine Autobiografie lebt. Denn was, muss man fragen, ist denn der grosse Erkenntnisgewinn von dem allen – der Benefit, den die Kunst für den abwirft, der ihr sein Leben opfert?
Von Leitner gibt’s dazu jede Menge Banalitäten. Er antwortet mit meist unfreiwillig komische Weisheiten. Er sagt: »Auf Reisen sind wir immerzu mit der Fremde konfrontiert«. – Sacra, nein, das hätte wir aber nicht gedacht!
Was geschieht, wenn man ständig auf Achse ist, wenn Reisen zum Selbstzweck wird? Es spielt sich eine Komödie ab. An jedem fremden Ort vollzieht sich dasselbe Schaupiel, a) mit den immergleichen Individuen: dem Portier, dem Bäcker, dem Taxifahrer, der falschen Blondine, – und b) mit dem Reisenden in der Hauptrolle. Der Reisende denkt, die unbekannten Personen haben ihn bei früheren Gelegenheiten in den gleichen Nebenrollen angeblickt: der Portier, der Bäcker, die falsche Blondine … Es ist als würden diese Menschen immer wieder speziell für ihn als lebendige Komparsie zusammentreten, an verschiedenen Orten, mit denselben Funktionen.
DANDYISTISCHE POSEN
Die Wiener Kuratoren trällern wie Vöglein im Chor: »Leitner ist ein Dandy auf Reisen!« – Aber das blasierte Bemühen der Wiener Kunsthalle um Dandyhaftigkeit wirkt eher verblasen, als Pose kommt sie bei ihrem Director Gerald Matt viel zu seriös daher.
Dandysmus verlangt Mut, und er verlangt Selbstironie. Bei Leitner findet sich Humor bestenfalls im Foto. Sein Umgang mit Menschen ist wenig inspiriert; zuhören kann er total nicht, Pointen parlieren mag er nicht, und gemütlich ist er höchstens in den eigenen vier Wänden. Kurz: Leitners Bildungstourismus hat mit Dandyismus so viel zu tun wie Bin Laden mit Tausendundeinernacht.
Ein Beispiel: Um mit einer Kubanerin ins Bett zu gehen, so hat kürzlich Joachim Lottermann aus Havanna berichtet, sollte man Spanisch sprechen. Dann »hüpft einem nicht das geile Tier entgegen, sondern die nette Kassierein vom HO-Laden. Sex ist nicht mehr von der Liebe abgespalten, mit dem Ergebnis dass beides wieder möglich wird. Denn wo die entfremdeten West-Pussy künstlich stöhnt, plaudert die Kubanerin lieber. Man hat ja alle Zeit der Welt, davor, danach, immer« (taz, 3.7.2007).
Wir glauben das gerne! Es sind schliesslich immer Serpentinen, die die Kunst mit dem sogenannten Leben verbinden. Bei Paul Albert Leitner aber soll das eine Gerade sein. Seine Spanischkenntnisse und sein Zeitbudget reichen gerade mal aus, um eine Chica dafür zu bezahlen, dass sie nackt in seinem Hotelzimmer possiert. Da es ihm weder um Orte geht, noch darum, in Fremden Menschen zu sehen, erlebt er nichts – er untersucht bloss die Images des Sichtbaren, indem er neue Bilder hinzufügt.
IM DAUERMONOLOG
Kann man mit Leitner über Flussdelfine plaudern? Nein. Über gutes Essen, Wein oder Schnaps? Kann man nicht. Sein Metier ist der Monolog, die Stimme der auctoritas, des Übervaters, des Welterklärers und des Kunstapostels. Was dieser Künstler von sich gibt, das sind ein für allemal feststehende, unveränderliche, durch keine Berührung mit neuen Stimmen modifizierte Bilder der Welt: Poolpalmenstudien, Präservativabfallstudien, Feuerhydrantenstudien, Frauenhaarstudien, Hotelbadezimmervorhangstudien.
Sicher ist da immer noch Spielraum für fliessende Übergänge und schöpferische Varianten. Im Bewusstsein des Betrachters aber geht diese Kunst ein als ein monolithischer Block. Sie lässt sich nicht aufteilen in das, was man akzeptiert – und das, womit man sich auseinandersetzt. Leitners Dokumentationen bilden eine geschlossene Ideenmasse, immer noch im Kessel, aber an der Oberfläche bereits abgekühlt.
Ist das nicht immer so mit der Kunst – dass sich ein einziger Dialekt zur allein gültigen Sprache erhebt? Nein. Der Philosoph Michail Bachtin nannte die Gefahr der Einheitssprache einer herrschenden Macht »Monoglossie«. Für den Leitner-Block passt der Ausdruck »Selbstmonografie« – die Aufzeichnung eines Lebens, das zu neunzig Prozent in der Aufzeichnung seiner Inszenierung besteht.
Dass hier die Choreographie den Choreografen schluckt, dass das Künstlersubjekt im Realen implodiert, das ist das Unheimliche an Paul Albert Leitner.
© Wolfgang Koch 2007
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