Der Titel der 6. Berlin Biennale „Was draußen wartet“ soll einen neuen „Realismus“ ankündigen. Nach Besichtigung der von Kuratorin Kathrin Rhomberg vornehmlich in Kreuzberger „Dark Cubes“ platzierten Ausstellungsobjekte, gelangte die Kunstkritikerin des Tagesspiegel Nicola Kuhn zu der Einschätzung: Sie, die Kuratorin der 6 Berlin Biennale, „versuchte erklärtermaßen“ – allerdings fast vergeblich – „hinter die Oberflächen, die sichtbare Ebene der Wirklichkeit zu gelangen. Ein Anspruch, den die Berlin Biennale seit ihren Anfängen besitzt, wurde sie doch als Gegenspielerin zu den erstarkenden Galerien in der Stadt und den schwächelnden Institutionen gegründet.“
Was ist darunter zu verstehen? Dazu hielt der kroatische Philosoph Boris Buden im Vorab-Rahmenprogramm der Biennale einen Vortrag – im „Festsaal Kreuzberg“: „How Realism Survived the Cultural Turn? A Case Study.“ Budens Vortrag begann mit einem FAZ-Artikel, in dem kürzlich auf die sich auftuende Kluft zwischen den verarmenden staatlichen Museen und den immer reicher ausgestatteten Privatsammlungen hingewiesen wurde. Während es in diesen um private Vorlieben gehe, so Buden, würden die öffentlichen Einrichtungen die „Images“ versammeln, die die bürgerliche Gesellschaft sich von sich selbst macht. Und hierbei käme den Kuratoren eine wichtige Aufgabe zu.
Buden sprach im „Festsaal Kreuzberg“ vor einem Publikum, das mehrheitlich aus „Young Curators“ bestand, deren einwöchiger von BMW und Goethestinstitut mit 60.000 Euro finanzierter Workshop namens „Real Players“ (!) war wiederum Bestandteil des von der Kulturstiftung erneut mit 2,5 Millionen Euro bezuschußten Berlin Biennale-Programms. Die „Young Curators“ kamen, zusammen mit ihren drei „Senior Curators“, aus 16 Ländern. Buden verglich den FAZ-Artikel aus dem Jahr 2010 mit einem Artikel, der 1971 in einer quasi offiziellen jugoslawischen Kunstzeitschrift erschienen war und sich mit einem Film der damals sogenannten „Schwarzen Welle“ befaßte: Ein fünfzehminütiger Schwarz-Weißfilm von Zelimir Zilnik, der dazu sechs Obdachlose in seine Wohnung eingeladen hatte, um sich mit ihnen über ihr Leben zu unterhalten. Der Film wurde 1971 erstmalig auf einem Festival gezeigt. Die Werke der „Schwarzen Welle“, die ab 1968 entstanden, waren laut Buden ein Reflex auf die etwa gleichzeitige Einführung der Marktwirtschaft in Jugoslawien, seine Abhängigkeit vom Weltmarkt und dem Beitritt des Landes zum IWF. Die Filme waren inspiriert vom italienischen Neorealismus, von Godard und der internationalen Studentenbewegung. „Sie suchten nach dem wahren Bild der Gesellschaft. Das Problem jedes Realismus aber ist die Repräsentation.“ Diese beanspruchte die kommunistische Partei für sich, indem sie sagte: „Wir, Jugoslawen, haben noch nie besser gelebt. Aber die Künstler der ‚Schwarzen Welle‘ wollen uns nun zeigen, dass und wie miserabel unser Leben ist.“
Während Hollywood sich danach einige Regisseure der Schwarzen Welle holte, konterte die titoistische Partei, die nur einige wenige ihrer Filme zensiert hatte, mit einer „Roten Welle“, in der mit Hilfe von Hollywoodstars wie Gina Lolobrigida und Yul Brunner ihre eigene partisanische Vergangenheit verherrlicht wurde. Das aber nur am Rande, denn Boris Buden kam es in seinem Vortrag darauf an, zu zeigen, wie sich die beiden Kunstkritiken, aus denen er zitierte, glichen. Auf die Rolle der Kunstkuratoren bei der Aufklärung der bürgerlichen Gesellschaft über sich selbst, kam er jedoch nicht zurück. Dabei scheint die Funktion, die heute insbesondere junge Kuratorinnen im Kulturbetrieb einnehmen, schon fast einem Paradigmenwechsel in der Kunst gleich zu kommen. Sie sind es, die weltweit über Atelier- und Ausstellungsbesuche Wissen ansammeln, um Kunst zu „public images“ und „Kernthesen“ zu verdichten, d.h. sie immer wieder aufs Neue prekär, also temporär zu bündeln.
Wenn sich einst aus dem Handwerker einerseits der selbständige Künstler und der gänzlich unselbständige Arbeiter andererseits entwickelte, dann haben wir es heute – mindestens in den öffentlichen Institutionen – mit einer Scheidung des national identifizierten Künstlers und der international agierenden Kuratorinnen zu tun. Sie vermitteln als Projektemacher zwischen den knapper werdenden Kulturbudgets und der zunehmenden Zahl von Künstlern. Die vier Kuratorinnen der Berlin Biennale kommen nebenbeibemerkt aus Österreich, Dänemark, Chile und Kroatien.
Die letzten Zuckungen der alten selbstherrlichen Künstlergarde hatte bereits ein für die Berlinale 1996 fertiggestellter Film thematisiert – mit dem Titel „Wüste Westberlin“ , in dem die Kunstberühmtheiten des Charlottgenburger Savignyplatzes – Lüpertz, Fetting, Hödicke, Joachimides, Block u.a. – noch einmal die gute alte Vorwendezeit beschworen: „Wir haben doch Berlin an den Weltkunstmarkt angeschlossen“ und „die Paris-Bar wurde zum absoluten Muß der Kunstwelt,“ meinte darin z.B. der Maler Markus Lüpertz. 2005 schrieb er jedoch in der „Zeit“ kleinlaut, nachdem er in der Florentiner „Villa Romana“ ein bayrisches Stipendiat abgeleistet hatte: Früher war das ein Ort, wo noch echte Maler „Bilder“ schufen, in denen sich das „Licht“ der Toskana spiegelte, „die Freude und das Glück, hier zu sein“. Aber „heute ruinieren Projektemacher dieses Künstlerhaus“ und die „Kunstwelt wird, auch in Italien, mit Projektveranstaltungen überflutet“. Konkret: Statt „Farben und Staffelei“ stellten die Stipendiaten nun zum Beispiel eine gefundene „rostige Schaufel“ da hin, die sie sodann in einen Zusammenhang mit „Kindesmisshandlung“ brachten, um so eine „Weltschuld zu konstruieren“ – also übelste Projektemacherei, die nun die „wilde Malerei“ von Lüpertz u.a. fast der Vergessenheit anheim gibt.
Man vergißt so vieles. Wenn ich mich richtig erinnere, war bereits kurz nach der Wende, nachdem die Gegend um die Oranienburgerstraße von temporären Kunsteingriffen aus dem Westen quasi durchfurcht worden war, die „Margarinefabrik“ in der Augustraße vom ehemaligen Medizinstudenten und nunmehrigen Projektemacher Klaus Biesenbach zu den „Kunstwerken“, kurz „KW“, erklärt worden, woraufhin der kunstsinnige Teil der Westberliner CDU in Sonderheit Klaus-Rüdiger Landowsky und sein Immobilien- „Verein der italienischen Nationgalerie“, die Chance kommen sahen, damit endlich ein Gegengewicht zur schmuddeligen Kreuzberger Kunstscene und ihren realistisch verbohrten Institutionen zu schaffen. Das geschah zunächst mit Lottomitteln, da der „Lottobeirat“, der diese Gelder verteilt, damals noch von Landowsky quasi dominiert wurde. In einem Merkblatt von Kulturschaffenden, die dort leer ausgingen, heißt es: „In der Tat scheint seit Jahren ein Grossteil der Lotto-Gelder an Institutionen zu gehen, die über personelle oder andere Verbindungen in engem Zusammenhang mit der CDU stehen“. Zunächst wurde erst einmal die Margarinefabrik mit Lottogeldern erworben, dazu gab es jährlich 675.000 DM an Fördermitteln. „Wir haben von Anfang an nicht nur Künstler und Kuratoren eingeladen, sondern gleich auch Politiker, Personen des öffentlichen Lebens und Geldgeber. Viele kannte ich bis dahin nur aus dem Fernsehen oder der Zeitung,“ erklärte der KW-Gründer Biesenbach in einem Interview. Die taz schrieb jetzt: „Als die Kunst-Werke 1993 ihre Ausstellung ’37 Räume‘ [in fast ebensovielen leerstehenden Wohnungen rund um die Auguststraße] eröffnete. erschlossen sie Pionierland.“
Im Tagesspiegel resümierte Landowsky 1998, dem Jahr der 1. Berlin Biennale, die Anstrengungen von Politik und Wirtschaft in bezug auf das neue Kunstzentrum: „Die interessante Szene hat sich nach Mitte verlagert“, während inKreuzberg nur „Junkies, Gewalt und Ausländer zurückblieben“. So hatte die Modemacherin Claudia Skoda zum Beispiel noch 1979 immer wieder bekräftigt: „Kreuzberg ist unerhört vielfältig,“ aber nun gestand auch sie dem „Sceneblatt“ Tip: „Nie wieder Kreuzberg!“ In ein ähnliches Horn tutete dann auch – neben Hunderte von „Hauptstadtjournalisten“ – der Kreuzberger Grüne, Karl Schlögel, als er in taz, FAZ und Tagesspiegel den nächtlichen Lärm der letzten Kreuzberger Autonomen, von ihm „Landsknechte“ genannt, derart poetisch geißelte, das man ihm dafür prompt Literaturpreise und sogar Lehrstühle anbot. Nicht wenige Künstler, wie z.B. die Gründerin des „Hoftheaters“ in der Muskauerstraße, Beate Bartsch, flüchteten zurück nach Westdeutschland. Die Künstlergruppe „Endart“ zerfiel, die Gruppe „Urbanart“ wanderte nach Polen aus, der Gründer des „Unart“-Theaters beging Selbstmord. Die Kneipen in der Oranienstraße waren plötzlich leer – ihre Kundschaft hatte großteils in den Osten rübergemacht – und sei es nur aus Neugier. Die Kreuzberger Projektemacherin Brigitte Faber-Schmidt wollte schon bald ganz Brandenburg in ein „Gartenland“ und dann in „Kulturland“ verwandeln – und tut das nun auch (ziemlich erfolgreich) mit ihrem gleichnamigen Verein.
2007 schlossen sich die von Fördergeld-Kürzung bedrohten Kreuzberger Kunstinstitutionen NGBK, Künstlerhaus Bethanien, Kunstamt Kreuzberg und das Museum der Dinge des Werbundarchivs zu einem Kampf-„Bündnis“ zusammen.
Der Neuköllner Künstler Thomas Kapielski hatte einmal behauptet: „Nach Berlin zogen immer nur solche Leute, die im Rechnen eine fünf, aber im Malen eine eins hatten.“ Mit der Verschiebung der öffentlichen Aufmerksamkeit von Kreuzberg nach Mitte veränderte sich nun dieser Zuzug. So erzählte z.B. der inzwischen hochbezahlte Bremer Maler Norbert Schwontkowski, nachdem er neulich seine Berliner Generalgalerie besucht hatte und bereits wieder auf dem Heimweg war: „Mensch, die haben nur Geld und Macht im Sinn, aber eigentlich darf ich darüber ja gar nicht klagen.“
In der Tat ist das eingetreten, was 1994 ein Gutachten im Auftrag des Gesamtberliner Senats prophezeit hatte: „Die Stadt fordert die Phantasie des Künstlers aufs neue heraus.“ Man müsse sich demnach um das Entstehen einer neuen Kunstscene keine (Geld-)Sorgen machen. Und mit der „Stadt“ waren hier nicht die Galeristen und Kuratoren gemeint, sondern der Nachwende-„Aufschwung“, der bereits atmosphärisch eine über den Bauboom vermittelte dritte Gründerzeit eingeläutet hatte.
Schon die erste hatte in Berlin um die Jahrhundertwende eine eigene „Aufbau“-Kunst hervorgebracht: Adolf Menzel „Eisenwalzwerk“ beispielsweise, aber auch die weniger bekannten Werke von Gärtner und Hummel. Eine neue Ausstellung von Werken Adolf Menzels in der Alten Nationalgalerie wurde jetzt von der „Berlin Biennale“ kurzerhand mit in ihren Kunst-Parcours zwischen „KW“ und Mitte zurück nach Kreuzberg einbezogen.
. Während der zweiten Berliner Gründerzeit wurde von den Künstlern der – diesmal sozialistische – Wiederaufbau der Hauptstadt realistisch verarbeitet: Otto Nagels „Maurerlehrling“ und „Polier“ an der Baustelle Stalinallee wären hier zu nennen sowie die Werke von Heinz Löffler und Walter Wommaka, der bei den späteren Portraits seiner „Helden der Arbeit“ die Pop-Art in den Sozialistischen Realismus gewissermaßen einschmuggelte. Ganze Künstlerkollektive begleiteten die Bauarbeiten.
Die Werke des neuen „Hauptstadt-Realismus“, die schon bald nach der Wende entstanden, müßte man dagegen durchgängig als „Krankunst“ bezeichnen: Nicht Bauarbeiter oder -ingenieure, also das Humankapital, standen diesmal im Zentrum des Schaffens, sondern Kräne, Bagger und Baustähle. Als Leitmotiv dafür könnte eine Nachwendebemerkung des Geisteswissenschaftlers und kurzzeitigen VW-Vorständlers Daniel Goeudevert gelten: „Im Mittelpunkt steht der Mensch, aber genau da steht er im Weg.“
So ist es denn auch nicht verwunderlich, daß zuallererst eine arbeitslose Kuratorin der 1993 abgewickelten Westberliner Kunsthalle, Bea Stammer, auf die Idee kam: Sie gründete zusammen mit einer Kollegin, Gabriele Horn, die damals noch beim Kultursenat beschäftigt war, die Firma „Art Management“. Stammer und Horn verfaßten mehrere Konzepte, die sie an große, in Berlin tätige Bauunternehmen schickten. „Es geht darum, Kunst mit Wirtschaft zu vernetzen,“ so Bea Stammer, der dazu beispielsweise ein „Kranballet“ und „Lesungen auf Kränen“ (mit Schauspielern) eingefallen waren.
Recht eigentlich begann die Krankunst jedoch mit der Wiedervereinigung und dem dadurch bewirkten Zusammenbruch des gesamtgesellschaftlich gültigen Tarifsystems – was sich schon bald im boomenden Berliner Baugewerbe drastisch bemerkbar machte: Zwar wurden im vereinigten Tarifgebiet Berlin-Brandenburg etwa den Bauhilfsarbeitern ein Bruttostundenlohn von 15,67 Mark zugestanden, aber englische Arbeiter taten es bald auch für unter 15, portugiesische, sizilianische und spanische gar für 5 bis 10 Mark die Stunde, Russen, Ukrainer und Polen für noch weniger.
Obwohl sich 1994 auf den rund 2000 Berliner Baustellen insgesamt etwa 1200 Kräne drehten, waren gleichzeitig 30000 arbeitslos gemeldete Bauarbeiter, meist deutscher und türkischer Herkunft, in der Stadt nicht mehr vermittelbar.
Statt sich mit den Betroffenen darüber wenigstens zu grämen, druckte die altneue Hauptstadtpresse fast täglich farbige Baustellenphotos ab. Und in ihren eiligst mit dem plötzlichen Verfall der Gewerbemieten eingerichteten „Immobilienredaktionen“ riß man sich um hochkarätige Statements und kontroverse Einschätzungen von „Developern“ städtischer „Filetstücke“ und märkischer „Speckgürtel“. Dabei entstanden solche Headlines wie „Datenhighway mit U-Bahnanschluß“ und „Neue Urbanität im historischen Kontext“. Die CDU-Parlamentspräsidentin Hanna-Renate Laurien und der SPD-Ministerpräsident Manfred Stolpe ließen zu gegebenen Anlässen fast unisono verlauten: „Jede Baustelle ist eine Hoffnungsstelle.“
Als dann auch noch die städtischen Werbemanager darauf kamen, daß Berlin seit der Wiedervereinigung eigentlich nur noch staubildende Baumaßnahmen zu bieten hatte, verwandelten sie dieses für die Hotels zunächst ruinöse Manko mit Hilfe von Reiseveranstaltern, Printmedien und Stadtbilderklärern (City-Guides) flugs in ein neues Erlebnisurlaubsangebot. Und fortan fuhren die Reisebusse von Baustelle zu Baustelle, wo man, ähnlich wie früher an der Mauer, Aussichtsplattformen errichtete. Am früheren Mauertouristen-Hotspot Potsdamer Platz, der damals mit 111 000 Quadratmetern größten Baustelle Berlins, wurde sogar eine aufgestelzte, dreistöckige rote Info-Box für mehrere Millionen Mark plaziert. Neben viel High-Tech waren darin die Büsten von fünf Architekten zu bewundern. Ähnlich der jetzigen Humboldtforum-Box und dem Plastik-Cube der Temporären Kunsthalle (neben der umgewühlten Schloß-Wiederaufbaustelle).
Nach Dotcom- und Banken-Krise beruhigte sich das Immobiliengeschehen jedoch wieder – und mit ihr die „Krankunst“. Nicht jedoch das Galerie- und Club-Gründungsfieber. Es schien mitunter so, als gäbe es gar nichts anderes mehr zu „gründen“.
In dieser Situation verlagerte die Kuratorin der jetzigen „Berlin Biennale“, Katrin Rhomberg, das Hauptstadt-Ereignis von der Galeriemeile Auguststraße für zwei Monate zurück in den sogenannten „Problembezirk“ Kreuzberg, wo die von ihr weltweit eingesammelten Kunstwerke und Kuratorinnen nun in ehemaligen Billardhallen, türkischen Kieztheatern, -Kneipen, -Hochzeitssälen, alevitischen Kultursälen und Privatwohnungen zusammenfinden. „Die 6.Biennale sucht nach der Wirklichkeit – und landet in Kreuzberg“, titelte der Tagesspiegel. Und die Berliner Zeitung schrieb: „Gerade in Kreuzberg, glaubt die Ausstellungsmacherin, könnten die Werke dazu Wirkung entfalten.“ Denn der neuerlich von „Gentryfizierung“ heimgesuchte Bezirk harmoniere gewissermaßen mit ihrer Ausstellungsidee – dem „Instabilen und Flüchtigen der heutigen Gesellschaft. (…) Viele Werke der Biennale drücken zum Beispiel das Unbehagen am Zustand der Welt aus.“
Immerhin, schreibt die Berliner Zeitung weiter, wurde die Stadt mit der Installierung der Berlin Biennale „eingeklinkt in das Verbundnetz der weltweiten Biennalisierung des Kunstbetriebs. Biennale, das sugeriert ein etabliertes Ereignis von Rang. Das kann mobilisieren, junge Kunst stärker und offener wahrzunehmen, zu fördern und zu verstehen.“ …Aber auch junge Kuratorinnen. Vom diesjährigen „Young Curators“-Förderprogramm der „Berlin Biennale“ profitierte z.B. die 24jährige Lerato Bereng aus Lesotho/Südafrika. Sie studierte erst Kunst und nun „Curating“ an der Universität Kapstadt. Mit ihrem „Master of Curating“ wird sie im Herbst die erste dort ausgebildete Kuratorin sein. Danach wird sie eine Ausstellung von südafrikanischer und chinesischer Kunst in Kapstadt kuratieren.
Lesotho hat keine akademische Kunstausbildung, auch keine Galerien und kein Kunstmuseum, nur ein bisher unbebautes Grundstück dafür. Lerato Bereng wird also im kleinen, seit 1966 unabhängigen „Königreich Lesotho“ als Kuratorin keine Arbeit finden, obwohl sie dort zu den Privilegierten gehört, denn ihre Mutter stammt aus dem regierenden Königsgeschlecht Moshoeshoe. In Südafrika gibt es dagegen eine sehr lebendige Kunstscene, sagt sie, auch wenn diese in Kapstadt, wo sie studiert, nur etwa 100 Leute vielleicht umfaßt und die meisten Bewohner der Stadt damit nichts zu tun haben. Lerato Bereng ist der Meinung, dass man die (südafrikanische) Kunst, die sich auch mit den ernsten Problemen des Landes auseinandersetzt, auf eine Weise diskutieren und vermitteln kann, dass selbst die der Kunst fernstehende Menschen sie verstehen. Das, was sie bisher an Berlineindrücken mitbekam, war jedoch erst einmal etwas ganz anderes, als sie es sich vorgestellt hatte. Sie scheint begeistert zu sein. In Lesotho gibt es kein Theater, hier wurde sie jedoch stundenlang u.a. mit den Wirklichkeitsbezügen und -problemen des „Hau“ und des „Ballhaus Naunynstraße“ konfrontiert. Realismus ist für sie eine Kunstrichtung, die sich mit der „Wirklichkeit“ (Reality) auseinandersetzt.
Wollte man hierbei indes Jean Baudrillard folgen, dann begann mit der Renaissance, in der die Zeichen „zu tanzen begannen“ das „Simulakrum erster Ordnung“. Mit der Industrialisierung, in der die industrielle Produktion das Original absorbierte, begann die „zweite Ordnung“. Und mit der Kybernetik, die das Theater der Repräsentation beendet, das „Simulakrum dritter Ordnung“. Darin kann es keinen Realismus mehr geben.
Einstweilen behilft man sich mit „diskursiver Kunst“. Dafür stehen die vielen auf der „Berlin Biennale“ gezeigten Videos bzw. Photos, in denen die Massen das Wort, das Lied oder eine Waffe ergreifen. Dazu gehört auch die Arbeit von Ron Tran, geboren 1972, im 26. Jahr des Vietnamkrieges, in Saigon. Laut FAZ sollen seine zusammengerückten Parkbänke auf dem Oranienplatz dafür stehen, „dass die diskursive Kunst den Kiez übernimmt“. Damit sind u.a. Streitgespräche gemeint, die aus einem Kunsteingriff resultieren. In diesem Fall wurden die vorher sich zwanzig Meter gegenüber sitzenden Senioren, die durch Ron Trans „Aktionskunst“ ungefragt in eine Situation gebracht wurden, die der Performance von Marina Abramovic ähnelt, die diese kürzlich im New Yorker Museum of Modern Art, kuratiert von Klaus Biesenbach, 721 Stunden lang durchstand – d.h. die Senioren saßen sich plötzlich auf anderthalb Metern gegebenüber. Statt der mehrheitlich türkischen Rentner meldete jedoch eine Gruppe jüngerer Deutscher Protest an: Mithilfe von Plakaten, die wie Steckbriefe gestaltet waren, wurden die zwei Senior-Kuratorinnen Katrin Rhomberg (BB) und Gabriele Horn (KW) als üble „Gentrifizierer“ entlarvt, die mit ihrem publicityträchtigen Kunstvorschub nach Kreuzberg zu weit gegangen seien. Das diskursive Kunst-Plakat legt nahe, indem es die Gesichter und Handynummern der zwei veröffentlichte, dass ihre im Problembezirk verstreuten Kunststücke gewissermaßen nach Mitte zurückgedrängt gehören. Das brachte denn auch prompt die Polizei auf den Plan – bei der Eröffnung, die mit einem vom Kreuzberger Bürgermeister initiierten Kiezfest auf dem Oranienplatz einherging. Die Senior-Kuratorin der Bundeskulturstiftung, Hortensia Völkers, hatte so etwas schon im Vorfeld befürchtet. Nun muß die Kunst von noch mehr Wachleuten geschützt werden. Dennoch gestand der Pressesprecher der Berlin Biennale der taz: Man habe die Plakat-Aktion „eigentlich super“ gefunden – und sie deswegen hängen lassen, nur die Telefonnummern der beiden Kuratorinnen sei unkenntlich gemacht worden.
Das Problem, das damit angesprochen werden sollte, gab es schon vor der Biennale, d.h. der Kreuzberger Mieterstamm wird schon seit Jahren mit enormen Mietsteigerungen konfrontiert – und vertrieben. Indem der Senat die ihm gehörenden Altbauten „preisgünstig privatisiert“ und die neuen Besitzer in aller Regel versuchen, die Mieten zu erhöhen. Bisher konnte mindestens der deutsche Teil nicht anders darauf reagieren als rassistisch: Es wird an den Kneipentheken über die Türken und erst recht über die Araber geschimpft. In all den immer noch als links geltenden Kneipen der ehemaligen Hausbesetzerscene z.B. in der Oranienstraße sitzen jetzt mehrheitlich Wendeverlierer: Sie haben mit Straßenkampf, Hausrenovierung und Garten-Anlegen so viele Jahre gebraucht, dass sie jetzt nicht mehr den Einstieg in das neoliberal angefachte Erwerbsleben schaffen. Diese „Kreativen“ wider Willen fürchten die sich engagiert selbst vermarktenden Künstler und Studenten, deren „Clubs“ sich gerade von Nordneukölln aus wie Pilze ausbreiten. Und am anderen Ende von Kreuzberg – am Moritzplatz – entsteht derzeit für etliche Millionen Berlins erstes „Kreativ-Kaufhaus“, dazwischen eröffnen immer mehr „Bio-Supermärkte“ – mit einem jungen Publikum, das im Bezirk noch weitaus fremder als eine ganzkörperverschleierte Irakerin wirkt.
„Die bezahlen jeden Mietpreis, selbst für unrenovierte Wohnungen,“ so charakterisiert ein Makler diese neue junge Kundschaft. Die einst in die Studentenbewegung Hineingescheiterten, die keine Rente über 180 Euro zu erwarten haben, das sind dagegen jetzt die Opfer der Gentrifizierung. In den Siebzigerjahren gehörten sie noch zu den Tätern. Ihre Verwandlung hat zwei Mal etwas mit der „Berliner Mauer“ zu tun.
Spätestens seit dem Bau der Mauer 1961 waren die meisten wohlhabenden Berliner aus Angst vor den Kommunisten nach Westdeutschland ausgewichen. „Die schlimmsten Leute haben die Stadt verlassen,“ so der Kabarettist Wolfgang Neuss. In ihre großen Wohnungen links und rechts des Kurfürstendamms zogen Studenten ein – und wenig später deren Institutionen: der SDS, der Republikanische Club, Kinos und Kneipen. Im Maße jedoch wie die Hausbesitzer in den Siebzigerjahren ihre zentralen Liegenschaften in Westberlin wieder in den Griff bekamen, wichen die Studenten nach Schöneberg und Kreuzberg aus. Ihre Politisierung hatte sich unterdes derart auf einige Aspekte des Alltags – nämlich der „behutsamen Stadterneuerung unter ökologischem Vorzeichen“ – beschränkt, dass sie dort mit den Türken aneinander gerieten. In diesen sahen sie nun bloß noch „Stoßtrupps der Hausbesitzer“ – zum endgültigen Herunterwohnen der letzten Altbausubstanz. 1980 schrieb die Scene-Zeitung Zitty: „In einem Türkenghetto entscheiden nur noch Justiz und Polizei…Türken raus? Warum nicht. Zumindest einige. Es sei denn, man will den Stadtteil sterben lassen“.
Viele Türken ließen nach und nach ihre Familien nachkommen, was die Bezirksregierung von Kreuzberg immer wieder mit „Zuzugssperren“ zu verhindern suchte. Diese Studenten und Hausbesetzer konnten die Türken nicht vertreiben, wohl aber die letzten Kreuzberger Arbeiter, die der Verlagerung ihrer Industriearbeitsplätze nach Westdeutschland nicht gefolgt waren. Sie wurden mitsamt ihren Currywurstbuden, „Sklavenhändlern“ (Arbeitseinsatzfirmen), „Eckkneipen“ und „Bier-Schwemmen“ aus dem Bezirk vertrieben. Dazu gehörten auch einige rechte Rockerbanden. Diese gaben nicht kampflos auf. Immer wieder überfielen sie linke Kneipen. Die Planung für den Bezirk sah ursprünglich einen Abriß fast der gesamten Altbausubstanz, eine Autobahn querdurch und die Umwandlung des einstigen Armenkrankenhauses Bethanien in ein modernes Einkaufscenter vor. Das wurde mit dem „Denkmalschutz“ verhindert, und die maroden Häuserzeilen wurden stattdessen zu großen Teilen von den Bestzern „objektsaniert“ sowie mit Alternativenergiequellen ausgerüstet. Dabei verwandelte sich die vormals linke soziale Bewegung langsam aber sicher in einen immobilen Bevölkerungsteil. Und dieser Zustand wurde nach dem Mauerfall immer übler.
Nun sind wir seit etwa drei Jahren so weit, dass diese ganze „Scene“ im „Kiez“ dran glauben muß. Wieder wehrt sie sich rassistisch. Und man fragt sich unwillkürlich: Würde das dem Problemviertel nicht vielleicht sogar gut tun, wenn man sie weggentrifizieren würde? Gleichzeitig muß man sich selbstverständlich gegen eine solche Gentrifizierung wehren – wie gegen jede Zumutung von oben nach unten.
Aber welche Rolle kann die Kunst dabei spielen? Die Dichterin Ingeborg Bachmann führte bereits 1964 in ihrer Dankesrede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises aus, dass und wie Kreuzberg langsam „im Kommen“ sei: „die feuchten Keller und die alten Sofas sind wieder gefragt, die Ofenrohre, die Ratten, der Blick auf den Hinterhof. Dazu muß man sich die Haare lang wachsen lassen, muß herumziehen, muß herumschreien, muß predigen, muß betrunken sein und die alten Leute verschrecken zwischen dem Halleschen Tor und dem Böhmischen Dorf. Man muß immer allein und zu vielen sein, mehrere mitziehen, von einem Glauben zum andern. Die neue Religion kommt aus Kreuzberg, die Evangelienbärte und die Befehle, die Revolte gegen die subventionierte Agonie. Es müssen alle aus dem gleichen Blechgeschirr essen, eine ganz dünne Berliner Brühe, dazu dunkles Brot, danach wird der schärfste Schnaps befohlen, und immer mehr Schnaps, für die längsten Nächte. Die Trödler verkaufen nicht mehr ganz so billig, weil der Bezirk im Kommen ist, die Kleine Weltlaterne zahlt sich schon aus, die Prediger und die Jünger lassen sich bestaunen am Abend und spucken den Neugierigen auf die Currywurst…An einem Haustor, irgendeinem, wird gerüttelt, ein Laternenpfahl umgestürzt, einigen Vorübergehenden über die Köpfe gehauen…Nach Mitternacht sind alle Bars überfüllt. Zehn Jahre später wurde daraus ein Schunkellied der Gebrüder Blattschuß: „Kreuzberger Nächte sind lang“. Die Europa-Korrespondentin des New Yorker schrieb dann – wieder zehn Jahre später: „Früher war Kreuzberg düster und schmutzig. Dann aber war es düster und schmutzig – und hatte Flair“. Die New Yorkerin berief sich dabei auf die Journalistin Renee Zucker, die jedoch weder in Kreuzberg gelebt noch sich in diesem Viertel herumgetrieben noch jemals so etwas gesagt hatte, das aber nur am Rande. Und sowieso kam dann die Spiegel-Autorin Marie-Luise Scherer bei ihrer eigenen Kreuzberg-Recherche zu einem ganz ähnlichen Befund: „Eine Frau darf hier scharf aussehen, den Pelz einer geschützten Tierart tragen und Gold auf den Lidern, wenn ihr darüber nicht das irisierende Moment von Sperrmüll abhanden kommt“.
Aus solchen medialen Mätzchen (Recherchen) wurde spätestens nach den Straßenschlachten am 1.Mai 1987 – als das Viertel für einige Stunden „bullenfrei“ gekämpft war – der „Mythos Kreuzberg“, der nach Meinung seiner letzten Ethnographin Barbara Lang schließlich für ganz Westberlin stand – und sich dann ab 1990 langsam veränderte.
Das Bild, das die bürgerliche Gesellschaft von sich mit Hilfe der Kunst schafft, bemühte noch stets den Mythos. Das geht bis zu den Arbeiterporträts des sozialistischen Realismus. 1975 machte Boris Jampolski in seinen „Aufzeichnungen aus dem Untergrund“ diesbezüglich darauf aufmerksam: „Wenn [E.T.A.] Hoffmann schreibt: ,Der Teufel betrat das Zimmer‘, so ist das Realismus, wenn die [Sowjetschriftstellerin] Karajewa schreibt: ,Lipotschka ist dem Kolchos beigetreten‘, so ist das reine Phantasie!“
In Kreuzberg begann die Mythifizierung wie erwähnt mit den Nachkriegskünstlern in ihren Kellerlokalen und dann erneut in den Siebzigerjahren mit dem Kampf zwischen maoistischer Soziokultur und sozial engagierter Kunst – um das Haupthaus des Bethanien-Krankenhauses, nachdem Lehrlinge, Trebegänger und Schüler das nebenstehende Schwesternwohnheim im Anschluß an ein „Ton-Steine-Scherben“-Konzert besetzt hatten. Vier Tage zuvor war ein Mitglied der „Bewegung 2.Juni“, Georg von Rauch, von der Polizei ermordet worden, deswegen wurde das „Martha-Maria-Haus“ sogleich nach ihm benannt – es heißt bis heute so – und rühmt sich, wiewohl nur noch ein Gebäude, in dem man billig wohnen kann, das „älteste besetzte Haus“ überhaupt zu sein (daneben existiert auch noch immer das vor 36 Jahren besetzte „Tommy-Weisbecker-Haus“ am Anhalter-Bahnhof, ebenfalls nach einem von der Polizei erschossenen Terroristen benannt).
Die aus dem SDS hervorgegangenen Basis-Initiativen, die auch eine „Randgruppenstrategie“ verfolgten, solidarisierten sich sogleich mit den jungen Hausbesetzern, schoben nächtens zur „Abwehr von Bullen und Rockern“ Wache und machten sich nützlich, indem sie aufräumten und fegten, während das Besetzerplenum ununterbrochen diskutierte – z.B. darüber, ob man nicht auch noch gleich das fünf mal so große Bethanien-Hauptgebäude nebenan besetzen sollte. Wenig später trat auch noch die maoistische Partei KPD/AO mit einem „Kampfkomitee Bethanien“ auf den Plan und machte sich für eine (proletarische) Kinderpoliklinik stark. Während erstere sich mit der Polizei auf dem Mariannenplatz immer wieder „Schlachten“ lieferten, gerieten letztere mit einer „Künstlerhausinitiative“ aneinander – und zwar so heftig, dass der Chef des Berliner Regionalkomitees der KPD/AO, Christian Heinrich, als Rädelsführer für ein Jahr ins Gefängnis kam. Das führte auch unter den Künstlern „zum Bruch alter Freundschaften“, wie die „Eiserne Lady“ (DAAD) der Westberliner Kulturszene Nele Hertling rückblickend meinte.
Nachdem sich jedoch die verschiedenen Interessensgruppen – Rauchhaus, Künstlerhaus, Druckwerkstatt, Eltern-Kindergruppen, Kitas, Sozialamt, Musikschule, Kunstamt, etc. – in dem riesigen Gebäude-Ensemble langsam etabliert hatten, kam es sogar zu partiellen und temporären Vermischungen bzw. Kooperationen unter ihnen. Dazu trugen die langsamen Veränderungen im „Umfeld Bethanien“, so hieß später auch eine Ausstellung, ebenso bei, wie die der Kunstszene selbst. Beide neigten zunehmend zum „Pragmatisch-Experimentellen“ (Walther Höllerer). So zogen z.B. einige Künstler ins Rauchhaus, Rauchhausbewohner versteckten sich vor der Polizei im Künstlerhaus, und mit den Grünen entwickelte sich sogar (wieder) ein staatsintegratives Soziotop, das dazu alternatives Kleingewerbe und überhaupt marktwirtschaftliches Denken begünstigte.
Das Künstlerhaus lud – um sich im Viertel nützlich zu machen – immer wieder türkische Künstler, Schriftsteller und Theatermacher ein. Schon an seiner ersten Lesereihe ( „Feuertaufe“ später von Michael Haerdter, dem Gründungsdirektor des Künstlerhauses, genannt) nahm Aras Ören teil, der 1977 im Rotbuchverlag das kommunistische Poem „Was will Niyazi in der Naunynstrasse“ veröffentlichte. Es wurde gerade vom „Ballhaus Naunynstraße“ auf die Bühne gebracht. Bei der Übersetzung half Ören der Dichter Johannes Schenk, der bereits 1969 zusammen mit der Malerin Natascha Ungeheuer das „Kreuzberger Straßentheater“ gegründet hatte, das u.a. Probleme der türkischen Arbeitsemigranten thematisierte. Ebenfalls 1977 trat auf dem Mariannenplatz – organisiert vom Künstlerhaus – ein türkischer Arbeiterchor und eine Folkloregruppe des türkischen Akademiker- und Künstlervereins auf. Damals war dort noch das Betreten des Rasens streng verboten; eine Sozialarbeiterin aus dem Bethanien erinnert sich, dass es die Türken waren, die das Verbot zuerst übertraten: „Wir Deutsche haben es ihnen dann bloß nachgemacht“.
Die linken türkischen Organisationen hatten ihren proletarischen Anhängern im Ausland zunächst geraten, sich politisch auf ihre Rückkehr in die Heimat zu konzentrieren, nach einigen Jahren gingen aber auch sie von einer permanenten Diaspora aus, wo man u.a. für Arbeitnehmer- und Mieterrechte kämpfen muß. Bald gab es in fast allen größeren Westberliner Fabriken türkische Betriebsräte und die leerstehenden Souterrainräume im Viertel wurden von türkischen Arbeitervereinen genutzt. In der IG Metall hält sich bis heute die Meinung: „Die besten türkischen Betriebsräte waren früher alles kurdische Maoisten!“
Inzwischen gibt es allerdings kaum noch türkische Arbeiter: Viele Westberliner Betriebe wurden nach der Wende dicht gemacht und für die restlichen gilt, was der Osram-Betriebsrat bereits kurz nach der Wende registrierte: „Wenn früher bei uns von zehn offenen Stellen neun mit Türken besetzt wurden, ist es heute nur noch eine, ansonsten nimmt man Ostdeutsche, die besser qualifiziert sind.“ Inzwischen ist jeder zweite Türke arbeitslos. Dies zwingt sie mehr und mehr, sich selbständig zu machen: Inzwischen tragen sie schon fast die gesamte Kreuzberger Ökonomie; die strenggläubigen unter ihnen planen daneben eine Moschee nach der anderen und die eher lebensfrohen Aleviten übernahmen, nachdem die Evangelen ihnen die leere Kirche am Mariannenplatz doch nicht überlassen wollten, den düsteren Gebetssaal der Zeugen Jehovas in der Waldemarstrasse, der sich darüber sogleich aufhellte. Gleichzeitig boomen aber auch die dunklen Spielsalons und Wettbüros wie verrückt. Allein rund um das Kottbusser Tor zählte der dortige Quartiersbeirat 18 solcher Läden.
Dennoch: Die Deutschen sind heute – zumindestens in S.O. 36 – beinahe nur noch Nutznießer der einstigen Kämpfe und Genießer des daraus entstandenen „Flairs“ bzw. der Reste davon.
1981 besetzte eine Frauengruppe die ehemalige Schokoladenfabrik am Heinrichplatz (es war ungefähr die 170. Hausbesetzung): Neben einem türkischen Frauenbad (Hamam) entstand dort ein „Treffpunkt, Bildung und Beratung für Frauen und Mädchen aus der Türkei“, gleichzeitig beteiligten sich einige der Künstlerinnen aus der Schokofabrik an der Ausstellung „Unbeachtete Produktionsformen“ im Künstlerhaus Bethanien. Von dort aus wurde 1984 umgekehrt die Ausstellung „Ich lebe in Deutschland“ von sieben türkischen Künstlern aus Berlin nach Bonn geschickt. Der in Ost- und Westberlin lebende Schriftsteller Klaus Schlesinger spazierte zu der Zeit einmal mit seiner Freundin Marie durch den Park vom Bethanien, dabei bemerkte sie: „Da ist es wie in der DDR, aber irrsinnig schön. Nachdem sie an Kurt Mühlenhaupts Feuerwehrbrunnen vorbei hinterm Oranienplatz wieder „ins Restberlin eingetaucht sind, ist klar: Kreuzberg ist wie eine Stadt in der Stadt.“
Hier tut sich in den Achtzigerjahren aber noch einmal eine Kluft auf – zwischen Künstlern und „Streetfightern“ (Autonomen): Letztere versuchen, teilweise erfolgreich, einige „Chickimicki“-Lokale im „Problembezirk mit Scheiße „wegzukübeln“ und zerstören daneben mehrere Kunstobjekte und Ausstellungen. Für diese „Kiezmiliz“ sind jetzt nicht mehr die Türken die Speerspitze der spekulativen „Gentryfication“, sondern die Künstler. Während die Türken mit ihren „Kulturvereinen“ inzwischen nach oben – in Läden – gezogen sind, haben jedoch ironischerweise immer mehr Künstler ihre Installationssräume und Clubs in Kellern eingerichtet: Die Galerie Eisenbahnstrasse, das Endart-Depot, Urbanart und das Fischbüro seien hier genannt. Aus dem Keller der letzteren trat 1989 die „Loveparade“ buchstäblich ans Tageslicht. Ein typischer Dialog am Fischbüro-Tresen ging so: „Machen wir noch eine Bierforschung oder gleich eine Nachhausegehforschung?“ „Ich muß jetzt erst mal ne Dönerforschung machen!“ Dergestalt näherte man sich den „Real Things“. Der Forschungsbegriff wurde damals von vielen Kreuzberger Künstlern derart gestretcht. Und fast alle ihre flüchtigen Ergebnisse fanden irgendwann Eingang in das Künstlerhaus, das gleichzeitig auch einen skurrilen Stamm von regelmäßig teilnehmenden Kunstbeobachtern
Als „einen Glücksfall“ bezeichnete Michael Haerdter die Regiearbeit von Samuel Beckett mit dem US-Verbrecher und -Schauspieler Rick Cluchey an dem Stück „Krapp’s Last Tape“ 1977. Berühmt wurden daneben z.B. aber auch die Materialfunde des proletarischen Künstlers Raffael Rheinsberg, die Islandforschungen des „genialen Dilettanten Wolfgang Müller und die Kriegsforschungen des „DDR-Dramatikers“ Heiner Müller, der nicht nur fast schon zum Künstlerstamm des Bethanien gehörte, sondern zuletzt auch bloß noch einen Steinwurf entfernt in der Muskauerstraße lebte, wo er von seiner türkischen Theaterkneipe „Le Soleil“ aus den Mariannenplatz und das schloßähnliche Portal des Künstlerhauses Bethanien im Blick hatte. Hier erinnerte er uns einmal an die „Kontinuität der Kämpfe“ um das Kranken/Künstlerhaus, das als „Hort der Reaktion“ schon 1848 gestürmt werden sollte, nachdem man während des „Bürgerkampfes“ 45 schwerverletzte Barrikadenkämpfer dort – gegen ihren Willen – eingeliefert hatte, von denen dann elf – wahrscheinlich aufgrund mangelnder ärztlicher Pflege, „wenn nicht sogar aus böser Absicht“, starben. Wenig später wollte Theodor Fontane, der dort just an dem Tag, als auf dem Mariannenplatz heftige Kämpfe tobten, „unter Flintengeknatter“ seinen Dienst als Apotheker angetreten hatte, einige Linksradikale, speziell Ferdinand Freiliggrath, die zu einem klandestinen Treffen nach Berlin unterwegs waren, im Bethanien einquartieren. Sie weigerten sich jedoch, Fontane bemerkte dazu später: „Was ich mir dabei gedacht, ist mir noch nachträglich ganz unerfindlich.“
Seine Apotheke im Erdgeschoß existiert bis heute – als eine Art Labor-Denkmal; die „türkische Bibliothek“ gleich daneben wurde jedoch inzwischen aus Einsparungsgründen wieder geschlossen. Dafür bot man etlichen arbeitslosen Türkinnen auf ABM-Basis eine „Computerschulung“ an, wobei sie dann jedoch nur stumpfsinnig die ganzen (deutschen) Bücherbestände der Kreuzberger Bibliotheken abtippen mußten. Noch schlimmer erging es einer Türkin, die – ebenfalls auf ABM-Basis – die „Öffentlichkeitsarbeit“ eines „Quartiersmanagements“ machen sollte – und dann dort zum Kloputzen abgestellt wurde, wobei sie sich noch laufend die ausländerfeindlichen Bemerkungen ihrer festangestellten deutschen Kollegen anhören mußte. Auch die Geschichte der Stammkneipe von Heiner Müller in der Muskauerstrasse endete übel: Die seit 26 Jahren in Berlin lebende türkische Wirtsfamilie wurde, weil man ihren abwesenden Sohn terroristischer Umtriebe verdächtigte, derart brutal von einem laut eigener Einschätzung „rechten“ Polizeisonderkommando überfallen, dass sie entsetzt das Lokal aufgaben und in die Türkei zurückzogen. Wie zum Hohn bekamen sie zum Abschied noch die deutsche Staatsbürgerschaft verliehen.
2007 hatte das mit Finanzierungsproblemen kämpfende „Künstlerhaus Bethanien gerade einen Investor gefunden, als das Bezirksamt „vorübergehend“ eine Gruppe von Hausbesetzern aus der Yorkstraße, die ihr Objekt infolge einer Privatisierung verloren hatten, in den leerstehenden Bethanien-Krankenhaus-Südflügel einquartierte – und diese sich daran machten, dort sofort ein „soziokulturelles Zentrum“ auf Dauer einzurichten. Der Konflikt, der daraus mit dem Künstlerhaus und dem Kunstamt im Nordflügel entstand – und der sich dann quasi zwischen Kiez- und Hochkultur diskuriv entfaltete, rief auf beiden Seiten Unterstützer auf den Plan. Die Bezirksregierung versuchte zu vermitteln – und zwar mit einem „Runden Tisch“. Das war fast eine Wiederholung der einstigen Besetzung des Krankenhauskomplexes.
Die so hartnäckig gegen die „Gentryfication“ eines Bezirks nach dem anderen „kämpfenden“ Zentren der Hausbesetzer sind inzwischen fast selbst zur Speerspitze der Gentryfizierung geworden. Berlin hat überhaupt keine andere Chance, als mit ihnen den Wandel zu einer Dienstleistungsmetropole für Jungtouristen aus aller Welt zu wagen. Man kann hier jeden Wohnungsmakler fragen: In die gediegenen Bezirke – nach Charlottenburg, Wilmersdorf, Steglitz usw. – will kein Schwein mehr hinziehen, alles drängt in die hippen, angesagten Bezirke, wo die „autonomen Freiräume“ sich ballen und die Dichte an „wilden Sprüchen“ an den Hauswänden zunimmt. Zu den am meisten photographierten Objekten Berlins gehört nicht etwa die Brandenburger Torheit, die alberne Gedächtniskirche oder die todschicke Museumsinsel, sondern der Spruch an der Brandmauer des großen besetzten Hauses in der Köpenickerstraße: „Köpi“: „Die Grenze verläuft nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen oben und unten“. Er wurde kürzlich durch einen Neubau nebenan, der jetzt eine „Investitionsruine“ ist, überdeckt – und sogleich durch einen anderen Spruch eine Brandmauer weiter ersetzt, der das Hausbesetzer-Problem sozusagen auf den letzten Stand bringt: „Die Grenze verläuft nicht zwischen oben und unten, sondern zwischen dir und mir“.
Es gibt schon große, gewiefte Bauunternehmer, die sich quasi auf den Kauf von solchen besetzten Häusern spezialisiert haben – und darin dann mit den Betreibern einen Nutzungsmix aushandeln. Denn es hat sich herausgestellt, dass die Räumung eines besetzten Objektes und die anschließende Grundsanierung der Immobilie durch Architekten und andere Konzeptionäre diese bloß totentwickelt. Bestes Beispiel dafür ist die „Kulturbrauerei“ in Prenzlauer Berg.
Der Streit zwischen dem Südflügel von Bethanien – der Soziokultur von unten (NeuYork) – und dem Nordflügel – der internationalen Kunst mit einem Investor, der das ganze Gebäude privatisieren wollte (Künstlerhaus) – ging dann so aus, dass der Investor absprang und letztere sich mit Lottogeldern in Höhe von 500.000 Euro ein neues Domizil nicht weit vom Kottbusser Damm in einer ehemaligen Glühbirnenfabrik schuf, die dem Kunst- und Karstadtsammler Nicolas Berggruen gehört. Den inzwischen geschützten Namen „Bethanien“ nahm das „Künstlerhaus“, das jährlich einen Senatszuschuß von 713.000 Euro bekommt, mit. Es eröffnete am selben Tag wie die Berlin Biennale, die ein paar ihrer Kunstobjekte in Wohnungen und Läden drumherum platziert hatte. Statt von BMW – wie das Kuratorenprogramm in der Berlin Biennale der Kunstwerke – läßt sich das Künstlerhaus von Mercedes sponsern.
Diese ganze geballte Kunstladung rund um den „Kotti“ wird jetzt aber nicht nur von finanzstarken Sponsoren, kunstsinnigen Touristen, politischen Repräsentationsdummies, journalistischen Sinngebern und wütenden Gentrifizierungsgegnern umkreist, sondern auch noch von fünf Kunststudenten-„Projekten“: „Sie reflektieren ihre [der Kunstladung] Botschaften und senden Reaktionen zurück. Dazu arbeiten sie u.a. mit Schülern einiger Kreuzberger Schulen zusammen, die dabei mit Hilfe einer „Visionsbox“ zu „Wirklichkeitsdetektiven“ heranreifen sollen, ferner veranstalten sie Rundgänge mit interessierten Bürgern und laden „Bewohner Kreuzbergs“ zu einem „Resonanz-Essen“ ein, um mit ihnen „Verknüpfungen zwischen der Wirklichkeit ihres Stadtteils und den Kunstwerken“ herzustellen. Ähnliches geschieht mit einigen Kreuzberger Initiativen, die von den Kunststudenten zu „Kiezgesprächen“ eingeladen werden sollen. Daneben will man sich aber auch um die vielen „Aufsichtskräfte“ an den Kunst-Standorten kümmern, indem man ihre „Langzeitwahrnehmungen“ dokumentiert. Diese studentischen „Satellitenprojekte“ werden u.a. vom „Förderverein Kunst im Kontext“ und vom Bezirksmuseum Kreuzberg unterstützt.
Im Grunde ist damit, bis auf die Heilsarmee und die Feuerwehr, tout Kreuzberg irgendwie involviert. So in etwa hatten die beiden steckbrieflich angegriffenen „Senior Kuratorinnen“ es sich auch vorgestellt. Dem FAZ-Feuilleton und nicht nur ihm war das jedoch alles viel zu viel „Schwarz und Weiß“(-Malerei). Während die „Young Curators“ am Ende ihres „Workshops“ kritisierten, dass sie immer noch zu wenig von der „Realität“ um die Kunst herum mitbekommen hätten.
Atelier im Künstlerhaus Bethanien. Das Photo zeigt einen Teil der Gruppe, die nach einem Streit die taz verließ und vorübergehend in diesem Atelier unterkam. Der taz-hausmeister stattete es ihnen daraufhin mit Büromöbeln aus.