vonWolfgang Koch 06.08.2010

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Wenn man in Wien den Namen der oder des gerade amtierenden ÖVP-Vorsitzenden kennt, gehört man nicht zu den politisch Interessierten, sondern meist schon zur politischen Klasse selbst. Gerüchten zufolge soll der Vorsitz zwei Monate vor dem Wahltermin einer Dame namens Marek gehören. Mehr wissen 95% der WienerInnen nicht.

Die Wiener ÖVP ist ein echter Honoratorenverein von drei Dutzend Bezirksnotabeln. Man trifft sich regelmäßig zu geselligen Abenden, um Heiligenbilder, Spielkarten und Goldeschmiedearbeiten zu tauschen. Mit moderner Stadtpolitik hat dieses käferartige Sammeln nichts zu tun. Hier werden gewisse Mentalität der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts am eigenen Verhalten musealisiert.

Von Zeit zu Zeit allerdings sind Wahlen zu schlagen. Dann bricht der große Jammer über diese umsichtigen Meister,  diese cleveren Wirtschaftskämmerer, Heimatforscher und Schlachtenmaler herein. Am liebsten gingen die liebenswürdige Interpreten der Vergangenheit dann in den SPÖ-Klub fragen, was nun zu tun sein; mit welchem herausragenden Kopf sie in der Wiener Gesellschaft wieder großen Ansehen erringen könnten.

Über allem, was die Stadt-ÖVP tut, schwebt der mächtige Schatten von Bürgermeister Dr. Karl Lueger. Dieser Christlichsoziale, der dem Kaiserhof als erster erfolgreich die Stirn bot, war die einzige Leistung, die das bürgerlich-konservative Lager in Wien je hervorgebracht hat. Und es war nicht wenig: die verbilligte Produktion von Gas und Strom durch die Übernahme der Werke in den Kommunalbezirk; die Elektrifizierung des Verkehrsnetzes unter Einbeziehung der neu eingemeindeten Wohnflächen jenseits der Donau; die ausreichende Versorgung der rasch wachsenden Großstadt mit hochwertigem Trinkwasser; die Errichtung von Spitälern, Versorgungsheimen und etwas hundert neuen Schulen.

Die heutige ÖVP träumt  gar nicht mehr von einer modernen Stadt. Ihre Spitzenkandidaten werden kapriziös gewählt, Wahlprogramme fast impressionisch entworfen. Frau Marek wendet sich per gedruckten SMS-Botschaften an die BürgerInnen. In einem solchen Inseraten-Text ist dieser Tage zu lesen:

»mehr polizeipräsenz. weniger drogenhandel am karlsplatz. mehr süchtige in den hilfseinrichtungen. weniger in der karlsplatzpassage. es geht, wenn man will. und tut. ihre christine marek. wien.oevp.at«

An der Forderung ist doch alles verkehrt, was man nur verkehrt machen kann: Wir wollen nicht mehr Süchtige, sondern weniger! Das Drogenmilieu lässt sich nicht mit polizeilichen Mitteln kontrollieren, das ist ein klarer Missbrauch der Ordnungskräfte, sondern nur mit politischen Schritten: mit der kontrollierten Freigabe und konsequenten Besteuerung des Drogenkonsums.

Die ÖVP aber sieht das alles nur kosmetisch. Die Gründerzeitfassade muss erhalten bleiben, die Süchtigen müssen aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verschwinden, vor allem im historischen Zentrum, am Karlsplatz. Die Wohnflächen in der Peripherie, die einst Lueger elektrisch befahren ließ, sind seinen Nachfolgern schnurzegal. »Weniger Süchtige in der Karlplatzpassage!« – mit demselben Recht rufen die Brigittenauer und Floridsdorfer: »Weniger Süchtige in der S-Bahn-Station Handelskai!«, mit demselben Recht rufen die Leopoldauer: »Weniger Süchtige am Praterstern«, und die LandstraßerInnen: »Weniger Süchtige am Bahnhof Wien Mitte«.

Diese Rufe, die von weit mehr BürgerInnen kommen als das Gekreische am Karlsplatz, nehmen die christlichen Sozialethiker freilich nicht einmal wahr. Lueger war ein geistreicher Einfall der Geschichte, seine Nachfolger aber repräsentieren die Obrigkeitsmacht, noch bevor sie sie überhaupt in den Händen halten. – Das verdient, wie bei Grünen und FPÖ, höchstens eine taktische Stimme gegen die erdrückende Übermacht der SPÖ.

© Wolfgang Koch 2010

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