vonlottmann 08.09.2009

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Natürlich weiß jeder literarisch Gebildete im fernen Deutschland, daß Günter Grass seine prägendsten Erlebnisse seit dem Zweiten Weltkrieg in Kalkutta hatte, das er in den späten 70er und frühen 80er Jahren bereiste. Er war schockiert über das, was er sah, und er prangerte den satten westdeutschen Kulturbetrieb an, sich zu wenig um die Hungernden, Ausgestoßenen und Entrechteten in der Dritten Welt zu kümmern. Er hielt es ziemlich lange in der Stadt aus, was beweist, daß er Nerven aus Stahl besitzen muß.
Was machte er wohl, wenn er von diesen hungernden Massen bedrängt wurde? Man kann sie ja nicht wegschubsen. Man darf auch nicht auf sie reagieren, ja nicht einmal in ihre Richtung gucken. Sie sind auch nicht devot oder untertänig bittend, sondern schlechtgelaunt und – verständlicherweise – hochaggressiv. Und es sind unzählbar viele, wie im schlechten Horrorfilm.
Es gibt nun auch wirklich keinen Grund, diese Stadt zu besuchen. Dass Grass es getan hat, muß mit seiner ja allgemein bekannten Blödigkeit zu tun haben. Eigentlich gibt es nur ein einziges Mittel, diese Leute, die zugleich arm sind und dazu noch Freaks, loszuwerden. Sie sind ja immer auch noch blind, steinalt, ohne Arme oder Beine, nackt, von schwärenden Wunden übersät, mit einem Säugling an der Brust, zahnlos und bestimmt auch aidskrank und von der Schweinegrippe heimgesucht. Also, das einzige Mittel ist schreiben. Da ist man so in seiner eigenen Sphäre, dass sie mit ihrer künstlichen Performance nicht durchdringen. Was ist ihre billige Schmierentragödie gegen die gänzlich wahren Empfindungen, die ein Schriftsteller zu Papier bringt? Gar nichts. Betteln ist, als lebenslanger Beruf, abscheulich. Das ist ja auch das Unangenehme an der bezahlten Liebe, dass alle Gefühle immer unecht sind, alles Gesagte Lüge, jede Reaktion durchschaubar und plump. Man hat danach Mühe, die gerade mißbrauchten und verballhornten Gefühle nicht zu verlieren, oder nur noch eingeschränkt zur Verfügung zu haben. Auch die natürliche Hilfsbereitschaft, die Freude am Helfen, wird nach einem Kalkutta- Aufenthalt für immer verloschen sein. Man muß schon den imperialen Missionierungsdrang einer Mutter Theresa haben, um hier noch weiterzumachen. Oder eben die Psychostruktur von Günter Grass.
Der Punkt ist nämlich, dass jeder vernünftige Mensch, auch jeder unvernünftige, sofort sieht, daß hier Hopfen und Malz verloren sind. Hier ist ein Sumpf aus Wasser, Schlamm und Müll, in dem absurderweise 15 bis 20 Millionen Menschen herumkrabbeln, und keine Organisation der Welt, auch kein Geld und keine Ideologie, kann diesen Platz der Erde trockenlegen. Selbst Hitler, hätte er den Krieg gewonnen, dank Rommel und anderen schneidigen Generälen, die über Afrika und den Kaukasus nach Indien vorgedrungen wären, nach Indien hinein, das die geschlagenen Briten ihnen abtreten hätten müssen, ja, selbst die Nazis hätten hier in tausend Jahren nichts erreicht. Es gibt hier nichts, nicht einmal japanische Toyota Trucks wie in Afrika, nicht einmal Land Rover, nicht einmal Unimogs der Bundeswehr wie in Afghanistan. Es gibt nur nasse Pappe, nasse Matratzen, nasse Jutesäcke und nasse Unterhosen. Kein islamischer Fundamentalismus schafft Ordnung, kein Turbokapitalismus kämpft sich bis in diesen Winkel der Menschheit vor. Hier kann niemand einen Profit machen. Und Westerwelles legendäre Prophezeihung, man müsse sich warm anziehen, Indien käme, Indien käme mächtig, ist nur so zu verstehen, daß er sich versprochen hatte, und in Wirklichkeit meinte, die armen Inder sollten sich warm anziehen, um nicht mehr in nassen Klamotten nachts zu frieren.
Kalkutta ist dennoch nicht die Eskalation aller indischen Elemente, sondern eher das Gegenteil. Die Inder sind eigentlich das freundlichste Volk der Welt, und das hübscheste. Die Kinder ziehen sich alle an, als gingen sie gerade zur Faschingsfeier. Ihre bunten Kostüme hat ihnen die Mami gerade erst genäht, sie tragen sie zum erstenmal. Und die Mamis haben, um mitzuspielen, ebenfalls gerade ihre Märchenkostüme angezogen. So ist Indien. Es wachsen so viele Rosen auf dem Misthaufen, dass nur ein krankhafter Misanthrop den Misthaufen überhaupt noch wahrnehmen kann. Von alldem ist Kalkutta das Gegenteil. Die Menschen sind unsagbar häßlich, innerlich wie äußerlich. Einfach ein jeder scheint heruntergekommen, verroht, vom Krieg gezeichnet, vom Mordbrennen und Vergewaltigen müdegeworden zu sein. Jedes Gesicht scheint das eines Verbrechers zu sein. Die Augen funkeln schwarz und inhuman. Während in Kerala und im südlichen Indien jeder Augenkontakt eine seelische Begegnung, ein Flirt, eine emotionale Umarmung ist, kann man in Kalkutta immer nur in Abgründe gucken. Anfangs regt sich noch der Gedanke, das Elend stoppen zu wollen, so, als sähe man die geschlagene Armee Napoleons von Moskau zurückstolpern. Man will den vor Entsetzen wahnsinnigen Soldaten zurufen: Leute, haltet durch, so schlimm es auch ist, das Leben ist noch nicht vorbei! Bildet eine Ordnung, macht Feuer, schlachtet Tiere, nehmt Kontakt mit der Obersten Heeresleitung auf! Mediziner bitte melden! Wir schaffen es zurück bis nach Paris, und dann wird gefeiert!
Aber hier gibt es solche Hoffnungsschimmer nicht. Die Leute wissen, daß hier auf immer Waterloo sein wird. Es kommt auch keiner raus aus dem Kessel. Und die Stadt sieht so zerschossen und rettungslos zerstört aus, dass dagegen Berlin am 30. April 1945 herausgeputzt aussah. Eine Stadt wie frisch gewienert zum Tanz in den Mai. Der Führer wußte das nicht, sonst hätte er wohl weitergemacht, anstatt im Bunker Blondie zu vergiften und das.
Ja, wir tun soviel, ohne zu wissen. Diese Worte des weisen Gurus Shri Shri Ravy Shankary, die er mir im Ashram sagte, gelten für fast alle Menschen. Außer Helmut Schmidt, Henry Kissinger und Hans-Magnus Enzensberger haben wir wohl alle die so sehr beschränkte Sicht unserer unmittelbaren Umwelt, also der Stadt und dem Land in dem wir leben.
Dennoch, gerade nach dem eben Gesagten, muß ich ein Wort der Bewunderung gegenüber den Briten abgeben. Was diese zähen Burschen hier jahrhundertelang ausgerichtet haben, kann nur meinen höchsten Respekt zuerkannt bekommen. Überall stehen die Prunkbauten noch, die sie erichtet haben, hunderte. Sie überdauern alles. Die überdimensionalen Parks, Regierungsgebäude – Kalkutta war bis 1911 Hauptstadt von Britisch-Indien – Kathedralen, Bahnhöfe, Straßenbahnen, Postgebäude und so weiter stehen noch und halten die Stadt fest. Es ist der einzige Halt hier, das Skelett. Die Straßenbahnen zum Beispiel hauen einen um. Seit dem Abzug der Briten ist kein einziger Straßenbahnwaggon neu gebaut worden. Es fahren immer noch die alten! Sie sehen inzwischen aus, als wären sie hundertmal auseinandergebrochen, geschweißt, mit Holz ausgebessert worden, dann mit Pappe und Spucke, schließlich mit Fliegendreck und frommen Gebeten. Es sind Phantasiegefährte, und sie rumpeln im Minutentakt über die völlig zerstörten Pflasterstraßen; kein Mensch kann begreifen, warum sie nicht entgleisen…





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