vonElisabeth Wirth 10.11.2009

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Heute vor 20 Jahren ist die Mauer gefallen. Es war einer der glücklichsten Tage im Leben meiner Eltern und somit auch für mich.

Am Abend des 09. November 1989 war mein Vater gerade dabei die Heizungsrohre in dem Haus zu streichen, in dem bis Januar 1989 meine Uroma gelebt hatte. Im Radio lief der Radiosender Rias und als er hörte, dass die Mauer offen ist, klatschte der Lackpinsel auf den Fußboden. Er rannte in unsere alte Wohnung, nahm dort angekommen mich und meine Schwester auf den Schoß und sagte mit Tränen in den Augen „Ihr zwei wachst als freie Europäer auf!“.

Ich war damals vier Jahre alt, meine Schwester war zwei Tage vorher zwei Jahre alt geworden und von dem Jahr 1989 und der Wende sind mir Gefühlsfragmente geblieben. Viele Freunde meiner Eltern hatten in den Jahren zuvor einen Ausreiseantrag gestellt oder waren geflohen. Die Schwester meiner Mutter hatte im Sommer 1989 mit Mann und meiner damals 1 1/2 jährigen Cousine einen Fluchtversuch gewagt und waren an der ungarischen Grenze ertappt worden. Sie mussten in die DDR zurückreisen. Ich habe noch das Bild in meinem Kopf, wie ich mit meinen Eltern in einem Treppenhaus stehe und sie aus einer verlassenen Wohnung Sachen sichern. Auch meine Eltern machten sich Gedanken über eine Ausreise, es gab Überlegungen unser Haus, welches sich1989, nach dem Tod meiner Uroma im Umbau befand, zu verkaufen.

Meine Schwester und ich gingen in einen evangelischen Kindergarten, weil unsere Eltern nicht wollten, dass wir in einen staatlichen Kindergarten gehen. Die Kirche in der DDR war eine Art Schutzraum und ich erinnere mich noch an Abende in der Kirche und Gerhard Schöne Konzerte.

In der Nacht des 9./ 10. Novembers feierten meine Eltern und am Vormittag des 10. November 1989 machten sich meine Eltern mit uns auf den Weg nach Westberlin, über den Grenzübergang Sonnenallee. Menschenmassen, ab S-Bahnhof Baumschulenweg. Wir Kinder saßen auf den Schultern unserer Eltern, der Kinderwagen musste irgendwie auch noch getragen werden.

Die nächsten zwei Tage verbrachten wir in Westberlin. Erst auf dem Rückweg, sagt meine Mutter, wurde ihr erst so richtig klar, was passiert war und ganze Emotionswelten überrollten meine Eltern.

Die DDR war ein Staat, der die Masse über das Individuum stellte. Plötzlich durfte man endlich laut sagen, was man dachte und musste nicht ständig aufpassen, in wessen Gegenwart man was sagt. Endlich durfte gefühlt werden, was man fühlt.

Für meine Familie hat der Mauerfall alles verändert.

Mein Vater ging noch 1989 nach Westberlin arbeiten. Ende November 1989 machten meine Eltern den Umzug meiner Tante und Familie nach Hamburg mit. Auf einer verschneiten Autobahn, alten Autos mit Hängern. Weihnachten feierten wir in Hamburg und brachten dorthin einen Weihnachtsbaum mit, der auf dem Autodach transportiert wurde und stark ausgerupft ankam.

Die folgenden Jahre habe ich als emotionsgeladen und auch unsicher in Erinnerung. Alles veränderte sich. Anfang der 90er Jahre machten sich meine Eltern selbstständig. Ich sehe auch noch vor mir, wie meine Mutter, an der einen Hand meine Schwester, an der anderen mich haltend, über den Ku-damm rennt, an dem wir Anfang der 90er Jahre oft waren und sie für uns Klamotten bei H&M einkaufte. In meiner Erinnerung ein Gefühl von Aufregung, Spannung und Freiheit. Ich glaube, der Ku-Damm war für mich als Kind etwas Besonderes.

In der Schule wurden die Kinder von ihren Eltern mit Spielzeug und Markenklamotten zugeballert. Wir gehörten zu den wenigen Kindern, die weder ein Gameboy, noch Polly Pocket oder Barbies samt Barbiemobil und Ken hatten. Manchmal hat uns das zu Außenseitern gemacht. Dafür gingen wir zur Musikschule, machten einen Töpferkurs, spielten Theater, meine Schwester machte Leichtathletik und ich verschlang Bücher nur so. Meine Eltern reisten mit uns Kindern in all den Jahren viel und ich habe als Kind fast ganz Europa kennen gelernt. Ich bin mit Berlin, als Gesamtberlin aufgewachsen und identifiziere mich nicht als Deutsche, sondern in erster Linie als Berlinerin und Europäerin. Das verdanke ich meinen Eltern und der Art, wie sie uns erzogen haben und dem Mauerfall, der diese Freiheit in einer Gesamtheit ermöglicht hat, die in der DDR so nicht möglich gewesen wäre.

In meiner Schulzeit waren noch viele der alten DDR-Lehrer tätig und das hat meine Schullaufbahn nicht immer einfach gemacht. Als ich anfing zu laufen und das erste Mal hinfiel, schützte ich mich nicht automatisch mit meinen Händen und Armen und knallte mit dem Kopf auf den Asphalt. Ich kletterte auch als Kind nicht auf die Klettergerüste. In der DDR suchten meine Eltern Ärzte auf, aber niemand nahm das ernst. Erst Mitte der 90er benannten Ärzte meine Schwierigkeit, als eine Koordinationsschwäche. In der Schule konnte ich keine Rolle, also kein Boden- und Geräteturnen mitmachen. Von den Lehrern wurde mir unterstellt, ich würde mich nur nicht bemühen. Es klingt absolut absurd, aber diese Tatsache, hat mich meine ganze Schulzeit verfolgt.

Ich bin mit dem Satz „Lasst euch nicht vor einen fremden Karren spannen“ aufgewachsen. Ich habe nie von meinen Eltern gehört, ich könnte oder dürfte etwas nicht, weil ich ein Mädchen bin. Es gab kein schwarz oder weiß. Wir sollten lernen selbstständig zu denken und Dinge zu hinterfragen. Ich lernte und lerne freies Denken und Fühlen. Ich hatte das Glück, dass ich die Möglichkeit hatte, mich als Individuum begreifen zu dürfen.

Für mich ist vieles selbstverständlich, was für meine Eltern und viele andere in meinem Alter, damals nicht selbstverständlich war.

In den letzten Jahren, wenn ich vom Friedrichshain über die Oberbaumbrücke nach Kreuzberg fuhr, habe ich oft gedacht, dass es verrückt ist, dass man das vor einigen Jahren nicht konnte. Heute wohne ich in Neukölln, in dem Dreieck Neukölln, Kreuzberg, Treptow und der alte Grenzstreifen ist nicht weit entfernt.

Der Weg von Westberlin zurück nach Ostberlin führte meine Eltern und uns damals über Kreuzberg, über die Schlesische Straße zum Treptower Park. Und als meine Eltern nach den ersten Tagen in Westberlin wieder das Haus betraten, klebte der Lackpinsel am Boden fest.

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