vonmaggie 25.10.2024

Widerhaken

Literaturkritiken. Oder: ein Versuch, nicht den Kopf zu verlieren, zwischen all den Worten die so herumirren in unserer wundervollen Welt.

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„Gesichtslose Personen“ und „metallisches Mondlicht“ auf den Pflastersteinen von Paris. Es war schon immer surreal, von Anfang an. Da ist dieses Ereignis, die bedrückendste aller Erinnerungen. Mal mehr mal weniger deutlich, doch schon immer definierend. „Die Erinnerung, an den einzigen Mord, den ich begangen habe.“

Es fing also alles dort an, im Bürgerkrieg, im chaotischen Eifer der Ereignisse, die rückblickend kaum genau zu rekonstruieren sind. Wohl aber die Details, die sich in den Kopf prägten. Ein Mann mit trüben Augen der auf dem Weg liegen blieb – und ein majestätisches weißes Pferd, vielleicht das schönste Pferd, auf dem er jemals gesessen hatte.

Niemand war dabei und niemand wusste je davon – dachte er, bis er in einem Buch die genaue Beschreibung dieser Situation ließt, ein haargenaues Abbild der Szene. Aus der Perspektive… des Toten.

Ab da fängt es an, ab dort taucht er auf – dieser surrealistische Touch. Derjenige, der das Leben erst real erscheinen lässt, dieses flaue Gefühl, diese Unglaubwürdigkeit, dieses Kopfschütteln. Diese scheinbaren Zufälle, die uns in Frage stellen, jeder fühlt, dass da mehr ist. Ein feines Flirren zwischen Himmel und Erde, ganz so als hätte man nicht alle Fäden selbst in der Hand.

Wie zufällig eine Bekanntschaft aus der Heimat im Standartlokal, wie zufällig eine Frau die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellt. „Dass du mehr begriffen hast, als du zu sagen verstandst“, erklärt sie ihm, „und dass deine Intonationen ausdrucksstärker waren als die Wörter, die du benützt hast.“

Gut, so weit so gut. Wir schwadronieren durch die Pariser Nacht, natürlich sind alle Figuren diese Art von Mensch. Frei, zufällig, ungebunden, lebenslustig, nein, verspielt geradezu. Überdefinierte Charakterzüge, wieder surreal. Ich habe lange keine Ahnung, wohin sie mich bringen.

Einerseits sind dort all die Kleinigkeiten, die wir erzählt bekommen über unser Phantom, das weder tot noch lebendig aber offensichtlich nicht mehr Teil unserer normalen Gesellschaft zu sein scheint.

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Anderseits ist da einfach großartige Erzählkunst am Werk. Die seltsame Zweischneidigkeit zwischen Seele und Materie, denn „zweifellos gab es in ihr eine Diskrepanz zwischen dem, wie ihr Körper existierte und dem, wie ihr Seelenleben, zögernd und zurückbleibend, diesem sensiblen Existieren nachfolgte.“ Das Buch ist geprägt vom langen, freien Pulsieren der Gedanken. Die feingliedrigen Stränge des menschlichen Seelenlebens habe ich selten so genau und verständlich wiedergegeben gelesen. Über all diese Dinge würde ich in meinem Tagebuch reflektieren, um mich selbst zu verstehen – all das, ausgedacht? Zweifellos. Aber Gasdanow ist ein genauer Beobachter, und das macht seine literarische Welt so brillant.

Und inmitten all dessen – wie sollte es auch anders sein, wie könnte es auch jemals ohne stattfinden – Philosophie. Als würden wir uns in Ermangeln eines Besseren mit der Sinnlosigkeit unserer Existenz beschäftigen. Oh ja, ich fühle natürlich auch „die ganze Zerbrechlichkeit der sogenannten positiven Konzeptionen“, besonders im metallischen Pariser Mondlicht. Und „noch so eine Täuschung: zu meinen, die Wirklichkeit habe eher recht als die Einbildung.“ Surrealität, sag ich doch. Sie haftet hier allem so unabdingbar an, wie Schatten den Menschen an einem sonnigen Tag.

Diese Ziellosigkeit ist wundervoll, zieht sich durch den gesamten Roman, ich lasse mich fallen und bewundere es sehr. Alles in dieser Welt schein ein Traum zu sein, ich würde mich weder über blauen Elefanten noch über einen Deus ex machina wundern – und werde doch überrascht.

Das Ende missfällt mir sehr – ich würde fast so weit gehen, es als Stilbruch zu bezeichnen. Die plötzliche Schnelligkeit und Kälte sind sicher genauso angebracht wie es zuvor die Menschlichkeit und Träumerei waren, das ist es nicht. Es ist der Mord an dem Krausköpfigen, der mich stört. Dargestellt als offenbar langjähriger Freund der Hauptperson, der an dieser Stelle zum ersten Mal auftritt – und handlungstechnisch nur dazu dient, die Pistole in der Tasche unseres Protagonisten zu begründen. So las ich es, und empfand es als etwas zu platt für einen genialen Kopf wie Gasdanow. Das eigentliche Ende, eines, dass alles zwischen die Zeilen schreibt und außerdem tausend Fragen offenlässt, war, gelinde gesagt, angebracht erwartbar.

Zurück bleibt der sanfte „Geruch vom verbrannten Phosphor der Streichhölzer“ und das seltsame Bild von angekokeltem Büttenpapier in meinem Kopf. Zum Glück missfällt mir das Ende so sehr – mein Mäkeln bringt mich auf sicherer Fähre zurück in die eigene Wirklichkeit.

ISBN: 978-3-446-23853-4

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