Schauplatz: das Bausler-Institut im Appenzell, Schweiz. Ein „Töchter-Institut“ steht in Stein gehauen neben der Einfahrt, ewig und unerschütterlich, so scheint es. Es herrschen „Frieden und Todesidylle im schmucken Glanz“.
Im Internat wird „das Leben allmählich lang“. Sie kommen von überall her und sie spazieren, kleine Absolutistinnen spazieren in Paaren, es scheint die einzige Beschäftigung zu sein. Im Internat selbst tragen sie alle eine Maske, die Hierarchie lässt sich mit den Händen aus der Luft greifen; die geschlossenen Bünde sind dicker als Blut. In der Mitte des Netzes ruht „mère préfère“, meist „Herrin der Friedhöfe“ in diverser Art, selbstentsagend und liebevoll züchtigend, ausgestattet mit einem grundsätzlichen Groll gegen Menschen. Ihre bevorzugten Mädchen haben schnell den Blick einer Spielzeugpuppe. Auf dem Internat wird „eine senile Kindheit in die Länge gezogen, bis an die Grenze des Schwachsinns“. Es ist, als hebe man jeden Tag sein eigenes Grab aus – am Tag der Abschlussfeier werden sie alle als Geister in die Welt entlassen, unsichtbar.
Die Erzählerin ist eigentlich eine Rebellin, war es zumindest früher. Sie war seit ihrem achten Lebensjahr von Internat zu Internat gezogen und kannte das Spiel auswendig, gab sich ergeben. Abgesehen davon war da nur die immerwährende Langeweile; sie hatte keine Lust zu lernen. Stattdessen schnitt sie Zeitungsartikel von Verbrechen aus, alles nur, was auf die weite Welt hindeutete. Ab und zu überkommt sie die Lust nach Gewalt.
Frédérique hätte sie belächelt, nichts an ihr würde je niederen Gelüsten nachgeben. „Ihre Verachtung für alles“ ist geradezu ästhetisch. Sie ist Perfektion; Kontrolle und Disziplin in ihrer reinsten Form. „Auch in die Leere brachte sie Ordnung“. Unnötig zu erwähnen, dass sie in jedem Kurs die Beste war. Es war ihr erstes Jahr in einem Internat, doch sie war eine von den Großen. Der Duft der Welt haftete an ihr, er klebte an ihren Geheimnissen, zu denen sie sich zeitweise herabließ: Männer und Zigaretten. Frédérique hatte keine Freundinnen denn „ihre Art, andere zu respektieren war selbst respekteinflößend“. Selten ließ sie ihren Galgenhumor sehen und noch seltener hörte man ihr sarkastisches, grundloses Lachen. Manchmal zog sie die Zeit allein den Spaziergängen vor. Geradezu jungenlich schien sie mit ihren großen Händen, ja doch, „sie ließ an einen Mann denken, wie an eine vollendete Parabel“.
Frédérique muss erobert werden, dass weiß die Erzählerin. Alle Gelüste kanalisiert sie in dieselbe, gottgleiche Disziplin. Sie kopiert Frédériques Handschrift in mühevoller Kleinstarbeit und liest, um in den Gesprächen mit ihr bestehen zu können. Diese Gespräche fordern alle ihre geistige Kraft, doch Frédérique nimmt sie an. Sie werden Komplizinnen, Blutsschwestern, unzertrennlich, wenn auch nie ebenbürtig. Die Erzählerin himmelt Frédérique an und fragt sich, ob es ähnlich schwer wäre, einen Mann zu erobern. Ihre „amitié amoureuse“ wird nie körperlich, sie hatten „eine Art von Fanatismus, der […] jede körperliche Äußerung verbot“. Frédérique schätzt Gedanken mehr als Menschen.
Micheline ist das Gegenteil von Frédérique, laut, schillernd, überschwänglich. Sie gibt der Erzählerin einen Kuss, „wie sie auch ihr Pferd geküsst hätte“. Frédérique tritt in den Hintergrund; nicht, dass es ihr etwas ausgemacht hätte. Als kurz darauf ihr Vater stirbt, verlässt sie mit einen Schlag das Bausler-Institut für immer. In ihrem predigenden Abschiedsbrief erwähnt sie die Freundschaft mit keinem Wort, nur eine letzte, würdevoll-schätzende Floskel. Dann ist sie fort. Auf einen Brief würde sie nie antworten.
Die Erzählerin sucht Frédérique vergeblich in allen Frauen, die sie traf, in anderen Internaten und danach. Und sieht sie schließlich doch wieder, unter Umständen, die sie sich nicht hätte ausdenken können.
Das Buch ist eine Liebeserklärung an die Lust an der Enttäuschung und den abgelegten Erwartungen, an das Suhlen im Schmerz, an Autoritäten und straffe Laken, an Gehorsamkeit und Schauspiel. Eine Hymne auf die schweren Gedanken, die doch in Angesicht der Jahre leicht, und schlussendlich nichtig werden.
Das Buch ist geschrieben, als würde man es erzählt bekommen. Etwas wirr und mit Erinnerungen gespickt. Es lohnt sich zweifellos öfter zu lesen, denn viele Andeutungen werden erst dann klar. Den Beschreibungen „Von hypnotischer Intensität.“ und „Schwindelerregend.“ kann man nur zustimmen.
In gewisser Weise ließ es auch mich als eines der Geistermädchen des Internats zurück.
ISBN: 978-3-518-47427-3