Deutschland 1983. Levent Sigirlioğlu, genannt Ali stellt eine Anzeige in die Zeitung: Ausländer, kräftig, sucht Arbeit, egal was, auch Schwerst- u. Drecksarb, auch für wenig Geld, Angebote unter 358 458. Damit fängt Ali’s Odyssee durch die unterste Ebene der Arbeitswelt an: über Subunternehmen arbeitet er über seine körperlichen Grenzen hinaus bei Thyssenkrupp, gibt sich als Versuchskaninchen der Medikamentenerprobung hin und soll „kritische Bereiche“ in Atomkraftwerken reinigen.
Was seine Arbeitgeber nicht wissen: Ali ist eigentlich der Journalist Günter Wallraff, der sich für seine Recherche als Ali verkleidete und ausgab. Er dokumentiert in seinem Buch, die abstoßenden Verhältnisse, mit denen ausländische Arbeiter*innen in der BRD konfrontiert waren.
Inhalt
Wo Deutsche Privilegien in der Form von notwendiger Schutzkleidung bekommen, gehen alle anderen leer aus. Geringster Lohn, unbezahlte Überstunden und Schicht-Marathon sind an der Tagesordnung. Die meisten arbeiten schwarz, Verträge gibt es nicht, Lohn wird schonmal einfach nicht ausgezahlt. Wenn jemand aufbegehrt, wird ihm mit einem Verweis an die „Ausländerbehörde“ gedroht. Ausländische Arbeitskräfte sind für Thyssenkrupp manchmal billiger als Maschinen. Entsprechend hart ist die Arbeit – es gibt kaum Schutzmaßnahmen, junge Männer sind schon nach kurzer Zeit für ihr Leben gezeichnet und ausgezehrt. Die Schadstoffbelastung verschafft ihnen lebenslange Schäden – auch Günter Wallraff (Ali) trägt eine chronische Bronchitis davon.
Aber vor allem ist es unbeschönigte, tiefverwurzelte Fremdenfeindlichkeit und leidenschaftlich vertretener Rassismus, die Ali und seinen Kollegen alltäglich entgegenschlägt. Innerhalb der Arbeit, aber auch in anderen Teilen der Gesellschaft, beispielsweise innerhalb der Kirche.
Zum Autor
Günter Wallraff wurde 1942 in Burscheid geboren und schlug nach einer bewegten Kindheit, Buchhändlerausbildung und halb-verweigerten Wehrdienst eine journalistische Richtung ein. Seine ersten Reportagen drehten sich die Darstellung von verschiedensten prekären Lebensverhältnissen. Er hat zahlreiche Anklagen durchgestanden, so auch beispielsweise von der Axel Springer AG, nachdem er lange Reportagen über die journalistischen Versäumnisse der BILD geschrieben hatte. „Ganz unten“ wurde einerseits ein Bestseller, der in diverse Sprachen übersetzt wurde, auch in der DDR erschien und eine türkische Auflage hatte. Anderseits regte es durch die Sichtbarmachung der Umstände die breite gesellschaftliche Diskussion an. Eine wirkliche Veränderung wurde jedoch eher durch die Selbstorganisation der türkisch-migrantischen Community geschaffen.
En général
„Ganz unten“ ist kein literarischer Roman, sondern ein reportageartiges Werk, indem Wallraffs Erlebnisse, kontextualisierendes Wissen und die Biografien der Menschen um ihn herum zusammenfinden. Auch, wenn die Perspektiven der türkischstämmigen Gesellschaft in Deutschland teilweise verkürzt dargestellt werden und ein gewisses vereinfachendes Gegensatzpaar von „Gut“ und „Böse“ aufgemacht wird, so rückte das Buch doch die vorhandenen Missstände (in den Industrien, aber auch bzgl. des gesellschaftlich breit vertretenen Fremdenhass) in die Öffentlichkeit. Vor Günter Wallraff hatten das auch schon Autoren mit türkischem Hintergrund versucht, ihnen blieb jedoch der Erfolg verwehrt.
Dass Subunternehmerkulturen Menschen mit Migrationshintergrund im Niedriglohnsektor (systematisch) ausnutzen ist keineswegs ein Problem der Vergangenheit in Deutschland, wenn auch in einem anderen Rahmen. In der Fleischverarbeitungsindustrie ist das während Corona sehr offensichtlich geworden. In der Kurier-, Express- und Paketbranche (KEP-Branche) ist es teilweise noch immer der Fall.
Günter Wallraffs Recherchen zeigen, welche Position Journalismus in seiner investigativen Form innerhalb der Gesellschaft einnehmen kann. Vielleicht kann er nicht aktiv auf einen Gesetzgebungsprozess einwirken – doch die Bürger mit dem entsprechenden Bewusstsein können es. Günter Wallraff zeigt den Wert und Einfluss, den investigativer Journalismus auf eine Gesellschaft haben kann, wenn er sich traut.
ISBN: 978-3-462-00322-2
Kostenlose Leseempfehlung zur Situation der KEP-Branche in Deutschland (Rosa-Luxemburg-Stiftung): https://www.rosalux.de/publikation/id/51897/paketdienste-ausgeliefert