vonmaggie 27.10.2025

Widerhaken

Literaturkritiken. Oder: ein Versuch, nicht den Kopf zu verlieren, zwischen all den Worten die so herumirren in unserer wundervollen Welt.

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Inhalt

„Mesopotamien“ erzählt die Geschichte eines zerrissenen Charkiws anhand seiner Bewohner, ausgeführt in fragmentartigen Erzählungen. Der Leser wechselt zwischen Hochzeit und Beerdigung, zwischen hartem Arbeitsalltag und Reisen in die fremden USA. Die Welt in „Mesopotamien“ schwankt zwischen hoffnungsvoll und gleichgültig – doch bleibt sie dabei immer unverblümt ehrlich. Manchmal ist sie unversöhnlich. Aber immer sprüht sie vor Lebendigkeit.

Mit jedem neuen Charakter erschließt sich dem Leser das engmaschig verflochtene Netz der Beziehungen innerhalb der Stadt. Man lernt die unterschiedlichen Schauplätze der Stadt kennen, sieht sie durch unterschiedliche Linsen und hat so das Gefühl, einen Blick auf die Stadt in ihrer Gesamtheit zu erhaschen.

 

Zum Autor

Serhij Zhadan wurde 1974 in Luhansk geboren und zog später mit seinen Eltern nach Charkiw. Er studierte Literaturwissenschaften, Ukrainistik und Germanistik. Schon mit siebzehn schrieb er erste Prosa-Werke, später erlangte er internationale Aufmerksamkeit, erhielt zahlreiche Preise und gilt heute als populärster ukrainischer Schriftsteller der Gegenwart. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit ist er Musiker. Er setzt sich seit Jahren für eine unabhängige Ukraine ein, seit dem Frühjahr 2024 kämpft er im Chartia-Bataillon der ukrainischen Nationalgarde.

 

Hintergrund

Charkiw liegt – wie der Titel beschreibt – in einem Zweistromland. In der Stadt treffen sich der Lopan und der Charkiw-Fluss, um sich später mit dem Udy zu einem Fluss zu vereinigen. Metaphorisch schlägt Zhadan die Brücke zum „ursprünglichen“ Mesopotamien im Nahen Osten, einer Wiege der Zivilisation, aber auch Schauplatz von Krieg und Zerstörung. Ein Ort, der – genauso wie Charkiw – für Zerstörung, Wiederaufbau und alle Gegensätzlichkeiten steht, die man dazwischen anfindet. Diese Zerrissenheit findet sich auch in Zhadans poetischer, rhythmischer Sprache wieder. Auch wenn das Buch vor dem russischen Angriffskrieg verfasst wurde, spiegeln sich darin die Schmerzen der Krim-Annexion und des andauernden hybriden Kriegs. Gleichzeitig liest es sich heute wie eine Ode an eine Ukraine, die sich nicht durch Russlands Angriffskrieg definieren lässt. Mit dem Hintergrundwissen, wie es um Charkiw und seine Einwohner heute steht, rückt der Krieg bedrückend nah an den Leser heran. Und gewinnt damit vielleicht wieder an der Aufmerksamkeit, die angesichts der multiplen Krisen ab und zu verloren geht.

ISBN: 978-3-518-46778-7

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