vonmaggie 30.11.2024

Widerhaken

Literaturkritiken. Oder: ein Versuch, nicht den Kopf zu verlieren, zwischen all den Worten die so herumirren in unserer wundervollen Welt.

Mehr über diesen Blog

Woyzeck, sage ich und „ach, jaaa…“ tönt es aus diversen Generationen meiner Familie. „Woyzeck, stimmt, hat der nicht am Ende seine Frau umgebracht?“ „Wees nich, det war so’ne typische, komische Schullektüre damals…“

Damals.

Ich kenne kaum Leute, die „Woyzeck“ in der Schule mochten, wirklich von dem begeistert waren, was Büchner dort fabriziert hat. Und dabei ist dieses Dramenfragment Begeisterung wert. Zumindest habe ich das so festgestellt, nachdem ich es in meinem Schrank wiedergefunden hatte, angestaubt, aber alles andere als abgegriffen.

Warum nur ist mir damals nicht aufgefallen, dass dieses Drama so mehrdimensional ist? So… gut?

Zunächst einmal ist da die Tragik, dass Georg Büchner so früh gestorben ist, und das Werk damit gar nicht vollenden konnte. So können die Szenen seit nunmehr 185 Jahren immer und immer wieder neu zusammengepuzzelt werden – ein unterhaltsames Spiel, dass gleichzeitig einen unendlichen Deutungshorizont eröffnet.

An sich jedoch folgt die Geschichte einem simplen Schema: Woyzeck, ein armer Soldat mit Wahnvorstellungen bringt sich mit erniedrigenden Gelegenheitsarbeiten durch, um seine Geliebte Marie und ihr uneheliches Kind zu unterstützen. Nachdem sie ihm jedoch mit dem sogenannten Tambourmajor fremdgeht, bringt er sie um.

Es gab drei bemerkenswerte Mordfälle, von denen Bücher zu „Woyzeck“ inspiriert wurde. Die Frage der Zurechnungsfähigkeit des Mörders, die Büchner im Drama stellt, wurde damals in Fachkreisen intensiv diskutiert. Genauso sind auch andere seiner Werke „Lenz“ und „Dantons Tod“ gründlich historisch recherchiert. Büchner sah sich selbst als eine Art Geschichtsschreiber, geht aus einem Brief an seine Eltern hervor. Zumindest jedoch hatte er den Anspruch, die Realität darzustellen und verteufelte den (klassischen) Idealismus, womit er zeitlebens noch relativ allein dastand.

Sowohl inhaltlich als auch stilistisch-strukturell ist „Woyzeck“ seiner Zeit voraus. Es ist eines der ersten „Offenen Dramen“ und fällt durch seine blitzlichtartige Schnelligkeit, seine Sprunghaftigkeit auf. Zeit scheint keine Rolle zu spielen, wir schweben im luftleeren Raum – gleichzeitig konfrontiert existenziellen Fragen. Büchner schreibt auch als einer der Ersten seiner Zeit überhaupt in einem literarischen Werk über die Umstände der Unterschicht und psychische Krankheiten.

Meine Lieblingsszene ist die Stelle, an der die Großmutter eine abgewandelte Version des Märchens Sternentaler erzählt – es ist dystopisch, absolut entmutigend. Und stellt, meiner Meinung nach die anerzogene Mutlosigkeit der damaligen Bevölkerung dar. (Oh, sollte ich schon hier eine Verbindung zum aktuellen Bildungssystem schlagen – lieber nicht, oder?)

Ich will keine Geschichtsstunde geben, aber hier die letzte Komponente: politische Aktivität. Zum Kontext, Büchner lebte in einer politisch unruhigen Zeit, die Ideen der französischen Revolution kollidierten mit der extremen Ungleichheit der Bevölkerung und dem dafür verantwortlichen regierenden Adel, der sich von Gott legitimiert sah. Die Schlagworte lauteten Freiheit, Einheit, Gleichheit; sie klangen verboten und doch so gut, die süßen Früchte der Vernunft würden die damaligen Philosophen sagen.

abo

Zeiten wie diese brauchen Seiten wie diese. 10 Ausgaben wochentaz für 10 Euro im Probeabo. Jetzt die linke Wochenzeitung testen!

Nicht nur also, dass Büchner aus einer gutgestellten Familie kam, sich aber für die Gleichheit aller und diesem neuen radikalen Dingens namens Demokratie eingesetzt hat. Nein, er wurde auch steckbrieflich verfolgt, nachdem das revolutionistische Flugblatt „Der hessische Landbote“ veröffentlichte. Im Protokoll einer linken Studentenvereinigung heißt es, er „schleudert einmal wieder alle mögliche Blitze und Donnerkeile, gegen alles, was sich Fürst u. König nennt“. Im sogenannten Fatalismusbrief an seine Frau schreibt er: „[…] die Herrschaft des Genies [sei] ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich [ist].“

Um es kurz zu machen: Mit „Woyzeck“ räumt Büchner auf allen Ebenen ab. Seiner Zeit stilistisch und inhaltlich voraus, tragisch kurz gelebt und wenig hinterlassen, kämpfte für edle Ideale, all das schlägt sich in diesem Drama nieder. Warum nur fällt mir das jetzt erst auf?

An dieser Stelle versagt irgendetwas ganz Tiefgreifendes in unserem Bildungssystem. Wer hat sich jemals für ein Buch begeistert, dass man in der Schule lesen musste? Warum lernen wir im Deutschunterricht nicht, das Lesen zu lieben? Was könnte man jungen Menschen Wichtigeres beibringen, als das?

Ich rege mich nur auf, lassen wir das lieber.

Ich bin einfach froh, dass ich nochmal reingeschaut habe. Schade für alle, denen dieses Werk schon so früh verdorben wurde.

ISBN: 978-3-14-0223-14-0

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/widerhaken/woyzeck/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar