Im Frühjahr 2010 diskutierte die Öffentlichkeit heiß über Pädophilie in der katholischen Kirche. Zu diesem Zeitpunkt begann die taz mit der Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte und berichtete im April 2010 auf einer Doppelseite, dass Pädophilie im Blatt zeitweise salonfähig war. In der vorvergangenen Woche wurde bekannt, dass der taz-Mitbegründer Dietrich W. zuvor als Pädagoge an der Odenwaldschule Kinder missbraucht hatte – wieder berichtete die taz über diesen Fall und das linke Milieu, das Pädophilie billigte. Die taz wird auch in Zukunft weiter ihre eigene Vergangenheit berichten – was nicht so einfach ist, weil viele Artikel in den Anfangstagen der taz nur mit dem Vornamen der Autoren gekennzeichnet waren und sich die Belegschaft der taz in den vergangenen Jahrzehnten weitgehend ausgewechselt hat – doch wir werden weiter recherchieren. Heute geht taz-Redakteur Jan Feddersen der Frage nach, in welchem Umfeld ein Verbrechen wie Pädophilie eigentlich gedeihen konnte und warum viele der Personen, die damals im linken Milieu aktiv waren, sich heute der Aufarbeitung verweigern:
Seltsam, dieses Schweigen. Eine Wortlosigkeit, die eventuell mit der Haltung von Eingeschnapptheit zu tun haben könnte – wo gibt es schon Foren, in denen sie zu Wort kommen könnten? Doch wäre es nicht interessant zu erfahren, wie die Denker und Macher der bundesdeutschen Schwulenbewegung der frühen Siebziger bis Ende der Achtzigerjahre diese Fälle inzwischen einschätzen?
Monatelang ist die halbe Republik entsetzt ob der Enthüllungen zum sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Priester, um den Klerus in einem für ihn ungewohnten Maße unter Begründungszwang zu setzen; Woche für Woche wird, weiters, der tatsächliche emanzipatorische Gehalt der sogenannten Reformpädagogik gewogen – und für zu leicht befunden. Denn das, was aus den Abgründen der Odenwaldschule bekannt wird, ist dem Publikum unappetitlich. Und stets geht es um sexuelle Gewalt, die mit dem Wort „Pädophilie“ allerdings nur unzulänglich beschrieben ist.
Denn es meint Freundschaft mit Kindern und kaum geschlechtsreifen Jugendlichen – aber um Freundschaft geht es Pädosexuellen vielleicht auch, meist jedoch um Sexuelles. Die Schwulenbewegung, die in der Bundesrepublik Anfang der Siebziger mit Rosa von Praunheims Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ die Bühne der Öffentlichkeit betrat, hat sich von Pädosexuellen nicht distanziert. Und wollte dies auch nicht.
Das verdient Erklärungen, wenigstens annäherungsweise, denn die Protagonisten jener Jahre sind auf dem Altenteil, nicht mehr am Leben, halten jedenfalls die Lippen geschlossen, so, als wolle man mit den Gründungsmythen jener Jahre nicht mehr konfrontiert werden. Einige Schlaglichter? Männer wie die Niederländer Edward Brongersma und Frits Bernard, auch der in Hannover lehrende Sozialpädagogikpapst Helmut Kentler zählten zu den wichtigsten Stichwortgebern einer Bewegung, die nicht allein die Entkriminalisierung von Homosexualität forderten, sondern insgesamt die Abschaffung des Sexualstrafrechts vorschlugen – die, wie es noch in den Neunzigern in Resolutionen linker Initiativen hieß, „intergenerationelle Sexualität“ sollte aus dem Strafrecht getilgt werden.
In den Anfangsjahren der taz, als eine kleine Gruppe von HomoaktivistInnen gelegentlich eine Seite der Zeitung zubereiteten, wurde unumwunden „die Möglichkeit“ gefordert, dass sich „Schwule, Lesben, Pädophile, Transsexuelle etc. sich autonom organisieren“ können. Damit waren diese ehemaligen taz-KollegInnen keineswegs avantgardistisch oder gegen den Zeitgeist unterwegs, sondern im Mainstream der linksalternativen Bewegung.
Die in Nürnberg beheimatete Indianerkommune war in jenen Jahren ein auf grünen Parteitagen oft erduldeter Faktor – junge, zottelig-hippiesk aussehende Menschen forderten von der eben gegründeten Partei, sich ihrer politisch anzunehmen. Straffreiheit für Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern lautete der Generalbass, und nur mit Mühe konnte sich das früh ökologische Parteivolk sich dieser Zumutung erwehren.
Das Thema Pädosexualität war, ließe sich sagen, für die Aktivisten selbst kein grundnötig zu erörterndes. Man war beschäftigt, damals in den Siebzigern, Achtzigern. Zunächst mit der nach wie vor existierenden Strafformel des Paragrafen 175, der immerhin seit 1969 keinen nationalsozialistischen Gehalt mehr hatte und einvernehmliche gleichgeschlechtlichen Sex zwischen Männern nicht mehr unter Strafe stellte. Und man hatte mit der Infektionskrankheit Aids zu tun. Es galt, im Zusammenhang mit dieser drohenden Epidemie jeden Versuch der Neuinszenierung des Hasses auf schwule Männer zu bekämpfen. Pädos? Existierten irgendwie nicht, gibt jeder zu Protokoll, den man heute zu diesem Thema befragt.
Die bizarre Weichheit jenen gegenüber, die ihr Recht auf straflos sexuelle Kontakte zu Kindern und Jugendlichen betonten, hat natürlich auch viel mit der Stimmung in den Siebzigern zu tun. Schulen und Elternhäuser waren weithin als Orte von Gewalt in Erinnerung; Kinder und Jugendliche zu schlagen ist erst seit den rot-grünen Koalitionsjahren verboten – gegen den Widerstand der Union. Sexualität, einvernehmliche, zärtliche, galt als Schlüssel zu einer besseren Welt, zu einer, so lauten einschlägige Chiffren, Menschlichkeit ohne neurotischen Panzer. Kinder und Jugendliche galten als Objekte der Befreiung aus den Fängen einer irgendwie noch nationalsozialistisch nachwirkenden Gewaltpädagogik.
Spätestens Anfang der Neunziger musste diese Naivität passé sein. Feministische Initiativen wie „Wildwasser“ – wie problematisch deren Erhitzungsfantasien ob des Themas sexueller Missbrauch in juristischer Hinsicht auch waren – holten das Thema aus dem Graufeld des Undeutlichen. Nun konnte nicht mehr ignoriert werden: dass es, zumal in den Zeiten des Internets, eine kriminell organisierte Szene der Pädosexuellen gibt; dass eine einvernehmliche Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern nicht existiert, wie im Übrigen dies auch ein Sexualwissenschaftler wie Martin Dannecker schrieb. Die Zeit, in der man seitens der linken Schwulenbewegung an der Kumpanei mit Pädos festhalten konnte, war nicht mehr günstig.
Undenkbar war fortan, sich mit einem pädosexuellen Literaten wie Peter Schult Solidarität zu üben. Der hatte eine astreine pädosexuelle Identität, und zwar bekennenderweise. Sein im linken Trikont-Verlag 1978 erschienenes Buch „Besuche in Sackgassen“ war ein kleiner Bestseller in der alternativen Szene – man goutierte Schults Affinität zur RAF, zu Drogen, zum Anarchismus, seine Mitarbeit in der Roten Hilfe München.
Als er 1982 erneut wegen sexueller Handlungen mit Jugendlichen, die noch keine 14 Jahre alt waren, angeklagt wurde, erhielt er öffentliche Unterstützung durch linkskulturelle Promis jener Jahre, etwa Volker Schlöndorff, Margarethe von Trotta oder Brigitta Wolf. Auch die taz berichtete mehrfach mitfühlend über den Mann, der gelegentlich für sie schrieb. Ein Verfolgter wie er – durch ihn hatte auch das Pädosexuelle nicht mehr den fiesen Beigeschmack des Kinderschänderischen.
Die Homobewegung, die auf Bürgerrechtlichkeit, auf das Projekt Eingetragene Lebenspartnerschaft und die Gleichheit der Rechte mit denen Heterosexueller setzte, hatte allerdings nichts, gar nichts mehr mit Pädosexuellem zu tun – dafür sorgten schon die Frauen, die in Organisationen wie dem Lesben- und Schwulenverband Gewicht und Stimme hatten. Die Forderungskataloge der CSDs sind frei von Missverständlichkeiten.
In der linken Szene träumte man freilich weiter vom Recht auf „intergenerationelle Sexualität“, vor allem taten dies so verschiedene Initiativen aus dem inzwischen gestorbenen Bundesverband Homosexualität. Was deren Aktivisten heute zu sagen haben, ist offen: Sie verweigern das Gespräch.
Öffentlich ist immerhin das Buch vom Soziologen und in der Homoforschung rührigen Rüdiger Lautmann, einst an der Universität Bremen tätig. Sein Buch, „Die Lust am Kind“ von 1994, ist keineswegs als ein Plädoyer für die Freigabe von Sex mit Kindern gemeint. Lautmann ließ in seiner Untersuchung Männer zu Wort kommen, die als Sexualobjekte Jungs bevorzugen. Diese Fibel las sich jedoch wie eine missglückte, bejahende Einfühlung in die Gemüter von Pädos – eine Art Beschwichtigung. Die Folgen sind langfristiger Art. Lautmann hat sich in der Homopolitszene mit diesem Essay heftig diskreditiert, bis heute.
Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern ist, so der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch, das einzige Tabu, das nach den Zeiten der sexuellen Aufklärung blieb. Alles andere ist erlaubt und sickert mehr und mehr in den Mainstream – und als erste Regel immer, dass das Gesetz der Einvernehmlichkeit zu gelten hat.
Publizistisch bagatellisierte der in der taz schreibende Elmar Kraushaar das Pädosexuelle bis in die Neunziger. Die Abgrenzung einer Homogruppe von Pädos ginge nicht an. Das las sich 1995 so: „Die Erpressung der Rechten [Christen, Konservativen, die Red.] zündet allerorten, und Ausschluss und ,Nichtbefassung‘ treten an die Stelle von politischer Auseinandersetzung. Für den Eintritt ins Establishment wird bar bezahlt. Wer wird nach den Pädos als Nächster dran sein?“
Schlägt man die Pädos, so diese linke Logik, werden auch die Homos bald in Knäste gesteckt. Eine Denkweise, die wenigstens eine milde Form von Verfolgungswahn umreißt.