Indem man Augartenporzellan kauft? Nein. Indem man gross wird in der Herrengasse, im Rathauspark, im Burggarten, auf der Strudelhofstiege, in der Josefstadt und in den Kaffeehäusern? Nein. Diese Zeiten sind passé.
Ist es wienerisch, wenn ich die Buschenschankverordnung ausnutze und mit meinem Selbstgekochtem im Tupper-G’schirr’l beim Heurigen anrücke? Nicht mehr.
Ist es wienerisch, dass unsere Gastronomie heute wirkt wie eine Geheimwissenschaft, mit einer Terminologie, für die man ein dickes Wörterbuch braucht? Never.
Ist es wienerisch im Suff die Pestsäule zu erklettern, wie das dem jungen Johannes Maro Simmel nachgesagt wird? Schon eher.
Wiens Entsagungen, flöten die Dichten, besitzen einen fast baccantischen Zug, Wiens Askese, gurren die Tauben, ist eine Resignation mit Rosen und Weinlaub im Haar.
Kann sein, kann aber auch nicht sein! – Offensichtlich ist das Gelände der kollektiven Selbstbespiegelung stark vermint mit Worten und Andekdoten. Das spricht für einen lebendigen Austauschprozess und eine gewisse Brisanz des Materiales.
1857 zählte die satirische Wochenschrift Der Teufel in Wien (Nr. 32) eine Reihe von Dingen auf, die ein echter Wiener niemals frei bekennen wird:
1. Dass er sich auf einem Ausfluge gelangweilt hat.
2. Dass Bäcker, Fleischer und Hauseigentümer unter gewissen Umständen doch in den Himmel kommen können.
3. Dass man ein braver Mann sein könne, ohne je einen Rausch gehabt zu haben.
Es ist immer wieder erstaunlich, wie sich bestimmte Einstellungen über die Jahrhunderte halten. Dies erlaubt aber noch lange nicht von einem »urwüchsigen Volkscharakter« oder einem überzeitlichen »Wiener Wesen« zu sprechen.
Schon möglich, dass der echte Wiener immer etwas zu schauen findet, wenn er einem Ausländer mühevoll Hochdeutsch sprechend und daher wütend die Schönheiten der Stadt erklären will. Aber gerade solche Fremd- und Selbstzuschreibungen (von der lebensnotwendigen Melange im Kaffeehaus über die sprichwörtliche Boshaftigkeit und den ebenso sprichtwörtlichen Neid bis hin zum bodenlosen Selbstmitleid des Wieners) sind kulturelle Destillate, sind hochprozentige Produkte, die nicht aufklären, sondern in erster Linie unterhalten wollen.
Zu den wenigen Dingen, die sich mit einiger Sicherheit über den Charakter der Stadt aussagen lassen, zählt diese: Wien ist ein Melting Pot, und das seit der Völkerwanderungszeit.
Die Assimilationskraft ist enorm; in Wien muss man verwienern, sonst hat man ausserhalb der Zuwandererghettos keinerlei Kommunikationsmöglichkeit.
Diese besondere Power der Stadt wird traditionell als Crossover der Nationalitäten beschrieben: »Bei der böhmischen Köchin«, so der Literat Hansjörgl 1856, »vergisst der Sohn der Alpen, dass er ein Tiroler ist, am Arme des stolzen Sohnes der Theissgegend denkt sich die Salzburgerin: Mein Joschi hat zwar keinen Kropf, ist aber trotz des Mangels dieser landesüblichen Salzburgerzierde ein Recht lieber Mensch.
Wien ist der Hexenkessel, in dem sich die Rassen kreuzen. Wien macht rasch jeden zum Wiener, der in Wien lebt, und dass man in Wien angenehm lebt, ja teilweise angenehmer als an der Spree – geben sogar die Berliner zu, und das will was sagen.
Die Wiener, d.h. jene Mischung von Ober- und Unterösterreichern, Steirern, Salzburgern, Pohlen, Italienern, Magyaren, Czechen, Preussen, Schlesiern, Schwaben, Serben, Kärthnern, Wenden, Slowaken usf., die man mit diesem Namen umfasst, sind, wie alle Welt weiss, sehr gemüthliche Leute. Selbst die ärgsten Gauner können jenen Anflug von Herzlichkeit nicht loswerden, der zu ihrem Charakter passt, wie wohlgeformte römische Vasen zu den Physiognomien italienischer Räuber.«
© Wolfgang Koch 2007
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