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Der Bär flattert in westlicher Richtung
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Der Künstler und Hochschullehrer Karl-Eckhard Carius entwickelte mit Studentinnen und Studenten in Vechta das Gruppenprojekt ›Rolf Dieter Brinkmann. Zeichen für einen Grenzgänger‹. Außerdem plante er eine Dichterplastik, deren Realisierung sich bis heute hinzieht. Carius konzentrierte sich deshalb zunächst auf die Ausstellung ›Der unheimliche Brinkmann‹ und die sie begleitende Anthologie ›Brinkmann. Schnitte im Atemschutz‹ (edition text + kritik, München), an der wir uns mit dem Text ›Zum harten Kern‹ beteiligt haben. Gut gefallen hat uns der Beitrag von Bazon Brock, ›Ich bin kein Dichter – ich fühle den Schmerz – R. D. Brinkmann ließ die Fetzen fliegen wie die Buddhisten ihre Gebetsfähnchen‹.
Und sehr interessant für uns, weil wir vorher nichts davon wußten, war der Essay des Dramaturgen Ludwig Haugk. Er berichtet von einer Laienaufführung im Jahr 1958 in der Aula des Gymnasiums Vechta. Wolfgang Borcherts Stück ›Draußen vor der Tür‹ wurde gegeben, in der Hauptrolle Rolf Dieter Brinkmann als Heimkehrer Beckmann. Ludwig Haugk schreibt: »Der Beckmann/Brinkmann hat jedoch Spuren hinterlassen. Über das normale Maß hinaus habe er sich mit der Rolle des Außenseiters Beckmann identifiziert, habe sich einen Bart wachsen lassen und sei tagelang in Maske und Kostüm durch die Stadt gelaufen, ›wie ein Gespenst‹ in einem – na klar: Borchert! – ledernen langen Mantel. Und dann nickt man in Vechta oder schüttelt mit dem Kopf, um anzudeuten: Dieser Auftritt war paradigmatisch für ›den Rolf‹: immer draußen, immer anders, abstoßend irgendwie und faszinierend zugleich.«
In seiner Besprechung der Anthologie in der FAZ erinnert Christopher Strunz an Jutta Koethers Aufsatz über R. D. Brinkmanns Beitrag zu der 1970 im März Verlag erschienenen Anthologie ›Trivialmythen‹:
»Wie die New Yorker Künstlerin Jutta Koether 1993 im Magazin ›Spex‹ schrieb, können Texte von Rolf Dieter Brinkmann beim Lesen einen aktuellen Existentialismus produzieren, der die vermeintlich eigenen Lebensumstände zugunsten der Kunst produktiv in Frage stellt. Jutta Koether hatte den Foto-Essay ›Wie ich lebe und warum‹ aus der 1970 veröffentlichten Anthologie ›Trivialmythen‹ gelesen: „Wie wir leben und warum. Gerade gestern diesen Satz als Titel einer Fotostrecke des Kölner Dichters R. D. Brinkmann gefunden; in einem alten März-Verlag-Reader. Das ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Neu-Existenzialismus. Warum will ich jetzt doch hier leben und warum mich nicht davonmachen? Ja, ich hatte mich davongemacht. Seit 1989 habe ich die wenigste Zeit meines Lebens in Deutschland verbracht. Und in diesem Jahr ganz besonders Zweifel gehabt.“
Der Essay ›Wie ich lebe und warum‹ besteht aus einer Serie von Fotos, die Brinkmanns nähere Lebensumgebung, das vermeintlich Private, Ende der sechziger Jahre in Köln, wie seine Wohnung, zeigen. Banal, schmuddelig, trostlos. Die Bilder zeigen einen Alltag, dessen Sinn, ›warum‹, den Lesern zum Geschenk gemacht wird: Da könnten sie selbst darauf kommen. Es geht nicht um die Verwandlung relativ trostlosen privaten Lebens eines Autors in Kunst; als ›Fotostrecke‹, Foto-Essay, verschiebt der Text die philosophisch-existentialistische Frage des Titels auf die Ebene eigensinnig künstlerischer Produktion. Das ist das ›Anfangen‹, der schreibende Anfang von Brinkmann, den er in den Tonbandaufzeichnungen „Die Wörter sind böse“ als etwas Schönes bezeichnet.«
Weil ›Trivialmythen‹ nur noch antiquarisch erhältlich ist (u.a. in der ›Großen März-Kassette‹ auf unserer Website, siehe März Verlag: Antiquariat) bringen wir jetzt Rolf Dieter Brinkmanns Beitrag in voller Länge:
›Wie ich lebe und warum‹ (1970)
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Renate Matthaei (Hrgb.), ›Trivialmythen‹. Broschur, 228 Seiten, März Verlag 1970 (nur noch antiquarisch erhältlich)
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(RDB / CS / BK / JS)