Es ist 14.29 Uhr und der 27. September 2009 (indischer Zeit). Deutschland hat sich für Dr. Guido Westerwelle und eine neoliberale Regierung unter seiner Führung entschieden, wie ich seit vielen Monaten wußte beziehungsweise sicher annehmen konnte. Es ist nun Zeit, Adieu zu sagen und den Blog ‚Auf der Borderline nachts um halb eins‘ wie vielfach angekündigt zu beenden (siehe Blogeintrag vom 3. August 2009). Die hysterische, humorlos-messerscharfe Stimme des neuen Außenministers wird das signifikante Geräusch des nächsten Jahrzehnts sein, wird das gemütliche Organ der Kanzlerin allmählich zum Verstummen bringen…
Doch ich werde davon nichts mitbekommen. Indien gefällt mir gut, und ich werde die neuen deutschen Verhältnisse von hier aus weder studieren noch kommentieren (können). Schon die letzten taz-Kommentare zum deutschen Einsatz in Afghanistan, zur kulturellen Kontinentaldrift und so weiter sind mir schwer gefallen, ja mißglückt, und in der Chefredaktion raufte man sich die Haare.
Mir ist es auch nicht mehr möglich, mich zu echauffieren. Morgen beginnt hier in den Bergen, in der Nähe von Jaipur, ein weiterer zehntägiger Meditations- und Schweigemarathon für mich, auf den ich mich seit langer Zeit freue. Der Ashram ist wirklich schön (siehe Fotos), nur das ewige Sitzen belastet den Rücken schon jetzt. Man darf zehn Tage lang mit niemandem sprechen, auch nicht sonstwie kommunizieren, also auch nicht schreiben, schon gar keine E-Mails, die natürlich verpönt sind. Man kommt dann auf Gedanken, von denen man gar nicht wußte, dass man sie hatte (soviel weiß ich schon vom letzten Ashram in Kerbala im August). Später werden sie freilich Eingang finden in mein Buch ‚Ich bin dann mal Indien‘ (Kiepenheuer & Witsch, Herbst 2010, 256 Seiten, Euro 12,95), und damit in eine gesamtgesellschaftliche Kommunikation. Den Ashram Hohepriestern wird das womöglich nicht recht sein, aber ich habe Vertrag und wichtig ist die drei Punkte, um mit Mehmet Özil zu sprechen (das nächste Spiel ist immer das schwerste).
Natürlich wird der Druck auf mich, wenigstens die Frankfurter Buchmesse zu besuchen und dort meinen überraschenden Bestseller ‚Der Geldkomplex‘ zu vertreten, stündlich, also mit jedem weiteren Tausend verkaufter Exemplare, größer. Damit meine ich die Medien, aber auch den Verlag. Es wird nicht einfach sein, sich dem zu widersetzen. Aber zumindest in den zehn Schweigetagen kann kein Ruf der europäischen Massen- und Miediengesellschaft in das abgelegene Kloster zu mir dringen. Und danach ist das Gehirn sowieso so edel, sauber und reingewaschen, dass ich gar nicht mehr begreifen werde, was die hektischen Deutschen da von mir wollen.
Ich verabschiede mich also von meinen lieben Bloglesern, gratuliere MdB Westerwelle zum Sieg, und verbleibe mit einem herzlichen Gruß als
Euer Lottmann