vonWolfgang Koch 22.02.2007

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»Wien ist anders« – Die Rathauspropaganda trommelt seit den Neunzigerjahren diese Botschaft, freilich ohne zu sagen wie. Nun, Wien ist tatsächlich anders – nämlich anders als Österreich.

Demoskopisch zum Beispiel. Verzeichnen wir in Restösterreich eine kontinuierliche Abnahme der Geburtenzahlen, so kann die Bundeshauptstadt mit einem leichten Anstieg punkten.

Wien tickt auch medizinisch komplett anders: mehr Atemwegserkrankungen, wesentlich mehr Grippekranke, mehr Übergewichtige, mehr Raucher und mehr Krebspatienten. Regional betrachtet sind in Wien die meisten Krebsneuerkrankungen zu verzeichnen, und in Vorarlberg die wenigsten.

Und was das Lebensende betrifft? Das herrliche Ableben? – Da ist Wien erst recht anders. In den Grenzen der Bundeshauptstadt steht es jedem Sterbenden absolut frei, sich auf eigenem Grund und Boden bestatten zu lassen. Jeder läppische Standardsarg entspricht bei uns den Hygienevorschriften für den Bau eines Mausoleums oder einer Gruft.

Das soll uns Restösterreich bitte erst einmal nachmachen!

Geburtenhoch, Gesundheitstief und eine fomidable Bestattungskultur – im Ausland ahnt man schon länger, das das die wahren Eckdaten von Wien sein könnten. Das Wienerische an der Stadt ist einfach kein unabänderlicher Seelenzustand. Dazu redet man zuviel davon.

Der Weisheit letzter Schluss in der Identitätsdebatte kann also nicht lauten, das Wienertum bestünde in einer besonderen, von aussen nicht einsehbaren existenziellen Eigenheit. Der Wiener ist weder ein Kasperl noch ein Pompfünebrer. Die Wienerin weder ein geborenes Opfer, noch das Gegenteil davon.

Auf diese Weise werden bloss existierende Klischee mit nichtexistierenden Klischees beschossen, was dazu dient, den Eindruck eines Konflikts zu erzeugen.

Das Wienertum ist kein besonderer Seelenzustand der mitteleuropäischen Menschheit! Keine exorbitante Haltung oder selbstgewählte Einstellung des einzelnen zum Leben oder dem Sterben!

Natürlich werden die Versuche nie enden, in der Psyche der Stadt wie in einem Buch zu lesen, wird der Wunsch nie ausgehen, dem erotischen Element des Gürtels wie einem Groove zu lauschen. Schriftstellern und Künstlern gelingt es ja immer wieder neue, überraschende Seiten der urbanen Existenz zu zeigen.

Ich erinnere an Bodo Hells legendäre Fahrt mit dem 13A-Doppeldecker-Bus: ein Blickparcour vorbeiflirrenden Zeichen; oder an Paul Albert Leitners niemals flüchtige fotografische Spaziergänge in den Outbacks seit 1995.

Ist es ein Zufall, dass zwei Realisten dieses Kalibers ihre Aufmerksamkeit an öffentliche Schriften und Reklametafeln klammern? Was mag es bedeutet, dass der Wortklauber Hell und der Blicksammler Leitner den Wiener Text quasi buchstäblich nehmen, wo sich ein verborgener Sinn der Stadt, wenn überhaupt, doch eher in den unendlichen Augenblicken zwischen den Worten enthüllt?

© Wolfgang Koch 2007
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