vonWolfgang Koch 24.01.2008

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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1919 ist es mit dem Klassenwahlrecht zu Ende. Bei den Nationalsratswahlen erreicht die SDAP die relative Mehrheit. Neben den Christlichsozialen haben noch eine Menge bürgerlicher Parteien in Deutschösterreich kandidiert: die Bürgerlich-demokratische Partei, die Demokratische Partei, die Demokratische Mittelstandspartei, die Wirtschaftspolitische Volkspartei, die Deutschnationale Partei und die Nationaldemokratische Partei.

Ein ähnliches Gewimmel unter den bürgerlichen Kräften herrscht bei den Gemeinderatswahlen im Mai, ohne dass sich links oder rechts von der CSP eine Initiative durchsetzen kann. Dem dritten Lager, der Deutschnationalen Vereinigung, gehörten Deutschnationale, Nationalsozialisten, Alldeutsche und Nationaldemokraten an. Grössere Listenallianzen im dritten Lager scheitern meist an persönlichen Animositäten.

Die CSP wirbt im April mit einer Erpressung der Länder um die Gunst der Wähler: »Wiener! Wählet am 4. Mai, ob Wien weiter vereinsamen soll, ob es es sich weiter entfremden soll den deutschösterreichischen Ländern, die ein christliches Wien liebten, ein rotes Wien aber meiden wollen, oder ob es wieder Mittelpunkt des christlichen Volkes werden soll.«

Bei geringer Wahlbeteiligung erringen die Rot- und die Weissnelkenträger 100 bzw. 50 Mandate; Tschechen und Juden ziehen auf eigenen Listen ein, wobei erstere für Tumulte im Gemeinderat sorgen, als sie die deutsche Angelobungsformel mit einem tschechischen »Slibuji!« besiegeln.

Ein Deutschnationaler erklärt in der ersten Sitzung lautstark »zum Wohl und Wehe unserer deutschen Vaterstadt« arbeiten zu wollen. Allgemeines Gelächter! Und die Liberalen bedauern den Erfolg der Linken: »London, Paris, Berlin und New York, keine einzige der führenden Millionenstädte der grossen Völker hat eine sozialistische Mehrheit.«

Am 11. Mai folgt ein Plebiszit in Vorarlberg, dessen Stimmberechtigte sich im Verhältnis 4:1 für einen Anschluss an die Schweiz aussprechen. »Man darf nicht vergessen«, erinnert sich Julius Deutsch, damals Staatsekretär für Heerwesen und Organisator der Arbeitermilizen, »dass sich hinter diesem Kantöligeist auch ein gutes Stück bewusster Reaktion verbarg. Die konservativen Politiker glaubten, mit dem roten Wien am ehesten fertig zu werden, wenn sie sich hermetisch von ihm abschlossen. Die Arbeiterschaft des eigenen Landes glaubten sie aus eigener Kraft niederhalten zu können, wenn dieselbe nur keine Unterstützung von der Hauptstadt erhielt. Das war ein Hauptgrund für die demagogische Hetze, die damals gegen Wien im Schwange war und das lockere Gefüge unseres Staatswesens beinahe um den letzten Rest seines inneren Haltes brachte.«

Die Wiener Bevölkerung sieht sich 1919 einer gefährlichen Wirtschaftsblockade ausgeliefert. Der enge Absperrungsring um die Stadtgrenze wird im Juli mit einer Verfügung der NÖ-Landesregierung geschlossen. Besuche in Wien sind nur mehr mit einem maximal auf drei Tage befristeten Erlaubnisschein zulässig.

Stadtautonomie? – Pah, dummes Gerede! Gut die Hälfte der Austriaken, bitte, ist im Stand die Wiener Bevölkerung bei völligem Gleichmut verhungern zu lassen.

© Wolfgang Koch 2008
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