vonWolfgang Koch 22.05.2008

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Von der Hellerwiese am Wienerberg aus werden die ersten NS-Gegner in Konzentrationslager verschickt. 42 von 43 Synagogen und Bethäuser, die 1938 bestehen, fallen den Novemberprogromen – unter tatkräftiger Mithilfe der Wiener Bevölkerung – zum Opfer. Radio Wien berichtet in Live-Reportagen.

Die Abrichtung der Meute ist ebenso Teil des Zwangswerkes wie die hochtrabenden Pläne der Ingenieure, Wien zum »Hamburg des Ostens« zu machen. Diese Formulierung stammt von 1919, der Traum ist wahrscheinlich noch älter, aber diesmal wörtlich gemeint. Bei Grossenzersdorf und von Schwechat bis Fischamed sollen zwei Häfen selbst hochseetüchtigen Dampfern das Einlaufen ermöglichen.

»Das Tor Deutschlands zum Osten an die Donau heranrücken! Industrien angesiedelt!« – in diesem Stil dringt das Gebell aus den Büros. Es folgen Unterdrückung und Diskriminierung der jüdischen »Gegenrasse«, Arisierungen, Ghettoisierung, Deportationszüge.

In rechtlicher wie städtebaulicher Hinsicht soll Gross-Wien die gleiche Stellung wie Hamburg geniessen. Nach Nordosten sollen sich Wohngegenden erstrecken, nach Westen der Schutz des Wienerwaldes bestehen, nach Süden Ausdehnung soweit als möglich, und nach Osten landwirtschaftliche Gebiete über Fischamend hinaus. Gigantische Pläne, während die Nationalsozialisten über Judenviertel ein nächtliches Ausgehverbot verhängen, den Zugang der jüdischen Bürger zu Parks beschränken, die Israeliten aus dem Tröpfelbad aussperren.

Das grosse propagandistische Ziel ist die Autarkie der Stadt, ihre Selbstversorgung mit Lebensmitteln innerhalb des Stadtgebietes. In der Realität wird zugleich eine ganze Bevölkerungsgruppe unter dem Stichwort »Volksschädlinge« enteignet. Hitler und seinen Knechten steht bereits den Krieg vor Augen und die Schwierigkeiten, die aus ihm erwachsen werden.

Im Sommer 1938 beginnt die Deutsche Luftwaffe mit dem Bau von insgesamt zehn Fliegerhorsten im Umfeld Wiens. In Schwechat nimmt Hermann Göring persönlich den Spatenstich vor. Bis zu 2.500 Häftlinge aus dem Konzentrationslager Mauthausen arbeiteten unter anderem am Bau der ersten 1.500 Meter langen Betonpiste mit.

Der Nationalsozialismus, der seine Grausamkeit gerne mit propagandistisch geschürter Sentimentalität tarnt, ist in Wien niemals zimperlich. »Die schlechten Arbeiterviertel müssen und werden verschwinden«, verkündet der Bürgermeister von Hitlers Gnaden. Das Herz liegt dem Mann auf der Zunge. Sechs Monate später spricht Neubacher bereits vom »Abziehen dieser faulen Haut von der Grossstadt Wien«.

Abziehen der faulen Haut? Im jahrhundertelangen Zentrum des Judentums, auf der Mazzeinsel, soll ein Kultbezirk entstehen, die Leopoldstadt plattgewalzt werden und einem sich bis zur Donau hinunter erstreckendem Aufmarschplatz weichen. Das also ist mit der »Fassung der Perle« gemeint gewesen: ein neues Stadtzentrum am Wasser mit Forum und Feststrasse, Parteibauten und Sportanlagen.

Dieses Wien an der Donau soll die rigorose Vertreibung der Juden mit Prachtstrassen und Aufmarschplätzen zugedeckt. Göring will die Stadt innerhalb von vier Jahren »judenrein« sehen.

© Wolfgang Koch 2008
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