vonWolfgang Koch 26.11.2009

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Es gibt im Leben eines jeden architekturbewussten Stadtbewohners den Moment, …

Bei mir ist der bevorstehende Abriss der Südbahnhofhallen von Heinrich Hrdlicka so ein zorniger Augenblick, und zwar nicht weil der in den Jahren 1955 bis 1961 errichtete Bau ungefähr so alt ist wie ich selbst; auch nicht, weil der Südbahnhof das imposante Stadttor zu einem der ersten Reiseziele meines Lebens gewesen ist … Nein, denn das muss er ja für Hunderttausende gewesen. Zwei, drei Generationen von Gastarbeitern, Zuwandereren aus dem Süden, Flüchtlingen aus dem Osten, steirischen Studenten und römischen Touristen vermittelte die wunderbare Hallenmuschel mit ihrem gedämpften Licht den berühmten ersten und bleibenden Eindruck von Wien an der Donau, sie bildete das Entree zu einer neuen Situation ihres Lebens…

Kam man mit der Bahn in den Siebziger- oder Achtzigerjahren aus dem Süden, tauchte – lange bevor die Bebauungsdichte auf Großstadtniveau anschwillt –, zehn Minuten vor der Station Meidling und bevor sich der Zug im Schritttempo an den verglasten Bahnsteig heranschob, links ein Werbeschild mit der schlichten Aufschrift GRABSTEINLAND auf, das Werbezeichen irgendeines Steinmetzbetriebs – aber für den Ankommenden immer auch das inoffizielles Ortschild von Wien. Und als mächtigstes Grab unter den Gräbern am Wiedener Gürtel, da erhob sich dann ausgerechnet der Bau des Südbahnhofs, dessen mamorgespenkelte Stiegen die Zugereisten in das Grabsteinland hineinspucken.

Man erzähle uns bitte nicht, es hätte keine Alternativen zum Abriss des dritten Südbahnhofgebäudes gegeben. Man hätte die brave alte Monumentalschachtel solide renovieren und als flotte Konzerthalle nutzen können; oder als Museum für Eisenbahngarnituren; oder als Teil der zukünftigen Shoppingmall – statt an diesem Ort ein Finanzzentrum zu errichten, dass erst noch mit einer Stadtseilbahn an die U-Bahn angeschlossen werden muss.

Man hätte das an den dritten Südbahnhof anschliessende Gelände einer Totalrevision unterziehen können, ohne die Gestrauchelten der Stadt aus dem Grün zu vertrieben und den ohnehin lärmgeplagten Schweizergarten drastisch zu verkleinern.

Am schönsten wäre es natürlich gewesen, man hätte überhaupt keinen Finger an die elegante graue Bausubstanz der Hallen gerührt – nicht an die Treppen mit den Fifities-Handläufen, nicht an die von tausenden Schritten im Türbereich gewellten Böden, – man hätte bloss ein paar Dutzend Pflanzentöpfe aus dem botanischen Garten hierher geholt und Sitzbänke aufgestellt, und es wäre ein einmaliger urbaner Platz unter einem regenfesten Dach entstanden, ein öffentlicher Panoramagarten mit Empore, eine Freizone zum Spazierengehen – und Wien wäre in Zukunft um eine Attraktion reicher, endlich, die erste im 21. Jahrhundert.

»Das wäre ja ein Wunder gewesen!«, hält man mir entgegen. – Sehen Sie, das ist eben meine Auffassung von Stadtleben. Wenn ich etwas verändern will, dann nicht um das hecktische Leben noch weiter zu beschleunigen, sondern rein zum Vergnügen! Die Geschichte ist jung, bitte, und das Projekt der Freiheit eine viel jüngere Fremdheit als sämtliche Erfindungen der Transportindustrie.

© Wolfgang Koch 2009

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https://blogs.taz.de/wienblog/2009/11/26/requiem_fuer_einen_bahnhof_1/

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