Muss heute ein Historiker die Mentalitäten des 17. Jahrhunderts untersuchen, so begibt er sich am besten nach Wien. Wir unterhalten hier in der Albertina ein welteinmaliges Institut, dessen Ausstattung und Direktion, unter der Leitung von Klaus Albrecht Schröder, den ganzen Habitus des galanten Zeitalters nachbildet wie ein populärer Historienfilm.
Man begab sich zum Beispiel diese Woche zur Eröffnung einer der zahlreichen Ausstellungen des Hauses, das noch vor zehn Jahren für die größte Grafiksammlung der Welt berühmt war und heute Buketts aus der angestaubtesten internationalen Museumsware darreicht (Andy Warhols Cars-Serien aus der Daimler Benz Sammlung, oder Impressionisten aus dem Wallraf-Richartz-Museum zu Köln).
Dem p. t. Eröffnungspublikum wird an solchen Abenden die Tortur von einem Dutzend Warteschlangen zuteil: bei der Auffahrt auf die Albertinarampe mit dem Lift (1), dann bei der Abgabe der Garderobe (2), vor dem Ordnerspalier, der Palastgarde, im Foyer (3), dann wieder vor dem Festsaal (4), dann im Festsaal vor den leeren, aber reservierten Stühlen (5), schließlich – nach den Auftritten der extravaganten Zelebritäten – noch mal Schlangestehen für ein Gratissekttröpfchen (6), dann vor der Pforte zum Schausaal (7) und im Schausaal vor den Bildern (8), zwischendurch vor der Toilette (9), am Ende an der Kasse im Museumsshop (10), wieder in der Garderoben-Schlange (11), und natürlich vor der Abreise mit dem Lift (12).
Man kann es mit ruhigem Gewissen sagen: der Besuch einer Albertina-Vernissage ist eine endlose Stehpartie, wie geschaffen für reisefreudige Engländer, eine Kette von freundlichen Demütigungen der prachtliebenden Menge, die sich mit vielen Ehrbezeigungen, Hochrufen und Applaus für dieses Schauspiel der Kastengesellschaft bedankt.
Es sind nur keine Engländer, es sind Wiener und Wienerinnen, die hierher walzen, ältere Semester, die sich für das Mamorstiegensteigen und Parkettbodentreten fein herausgeputzt haben, um dann einander im Halbdunkeln der Säle gegenseitig zu mustern und nach den interessantesten Exemplaren des jeweils bevorzugten Geschlechts Ausschau zu halten.
Passend zu dieser gedrechselten Steifheit ohne Steifrock gab es diese Woche das Opening einer Ausstellung, die gleich im Titel das untertänige Motto »Im Auftrag des Kaiser« führte. Seine Magnifizenz, der Fürst, kreuzte mit der ortüblichen Verspätung von 15 Minuten auf. Im Schlepptau, wie bei einer Ärztevisite, die Höflinge und Bücklinge mit blassen Lippen. Die Wartenden immer noch von den nervösen und befrackten Testosteronbomben mit Funkgeräten in Schach gehalten.
Zur seiner Linken folgte dem Fürsten der bekannteste lebende Philosoph der Stadt, Konrad Paul Liessmann. Die beiden sind befreundet ist wie einst Kaiser Franz Stephan, Gemahl Maria Theresias, mit dem Gelehrten Valentin Duval. Im angemessenen Abstand rauschten Hofkammerdiener, Sekretäre und Assistentinnen über die polierte Stiege. Die Männer nicht mehr in langen Brokatröcken, die Damen nicht in Seidengewändern, aber alle im gut sitzenden Businessdress.
Wo trieb es den Fürsten hin? Zu einer von einem Bückling bewachten Flügeltüre, die in den hinteren Teil des Prunksaales führt. Der Hausherr spähte kritisch durch einen geöffneten Spalt, besah sich das dampfende Chaos der Wartenden. Dann winkt er – ohne sich einen Millimeter in ihre Richtung zu bewegen – mit einer Hand die Comtesse heran. Der Fürst schnippt dabei nicht mit den Fingern, das nicht; aber er winkte sie doch so herbei, als würde er mit den Fingern schnippen.
Die Comtesse, eine erlesene Schönheit mit Charakterkopf und brünettem Langhaar, antwortete auf den Wink nicht mit einem Rehsprung, sondern kurvte voll ihrer Würde eingedenk, also wie in Gedanken versunken, beinahe widerwillig und dadurch ihre hohe Stellung am Hof betonend, heran, um die fürstlichen Anweisungen entgegen zu nehmen.
Dann eilte die Presselady davon. Und man konnte sich gut vorstellen, dass sich solche Gefolgsleute zu Bürozeiten mit derselben gebotenen Grazie im Rückwärtsgang aus dem Chefzimmer entfernen. Als nächstes fischte der Fürst sein Mobiltelefon aus dem Sakko und gab detaillierte Fernanweisungen an das Personal im Saal, wie das Publikum darin umzugruppieren seien. Hier ein paar Stehplätze mehr, da mehr Luft für eine Statue. Die nicht belegten Sessel mussten besetzt werden. Auf der Bühne: mehr Licht.
Der erste Philosoph der Stadt stand die ganze Zeit etwas ratlos neben dem Fürsten; doch insgeheim bewunderte er ihn gewiss über alle Maßen. So kann er mit seinen Studenten im Hörsaal nämlich nicht umspringen, die Zuhörerschaft mittels einer unsichtbaren Hand umschichten und vor dem eigenen bejubelten Auftritt neu zusammen setzen.
Als das fürstliche Saalordnungs-Manöver abgeschlossen war, stieg Schröder dann zufrieden mit dem Philosophen die Marmortreppe hinab, um nach einer weiteren Minute den Prunksaal unmittelbar neben der Bühne zu betreten. Aufbrandender Applaus. Nun konnte die Ausstellung eröffnet werden.
Es gibt bei Events der Albertina hunderte solche Miniaturszenen zu beobachten, die direkt dem gedrechselten Repräsentationszeremoniell des Ancien régimes abgeschaut sind. Wie gesagt, ein einmaliges soziologisches Biotop; ein Arkadien des Scheins; ein Relikt längst vergangener Zeiten. Vom rituellen Aufwand her nur noch vergleichbar dem Gerangel bei Pariser Pret à Porter Schauen oder den Gestöckel von Hollywood-Celebrities.
Die Wiener Gesellschaft hat bekanntlich dem Kaiserhof den Zusammenbruch der sozialgeometrischen Öffentlichkeit bis heute nicht verziehen. Mit der neuen Albertina verschafft sie ihrem Schmerz ein wenig Linderung.
© Wolfgang Koch 2010
Warum man denn wenn man das nicht liebt zu so einer Eröffnung geht ist mir halt eine Frage?! Letztendlich geht es mir als Museumsbesucher ja nicht um die Eröffnung, sondern die Ausstellung selbst und von diesen war ich in der Albertina eher immer positiv überrascht.