vonWolfgang Koch 21.02.2010

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Nitschs Seinsphilosophie ist trotz der dreitausend Seiten, auf denen sie sich ausbreitet und sich gewisse gestalthaften Erkenntnismuster ausbilden, kein klar ausdifferenziertes Denken. Das liegt daran, dass dem Autor an der Ausdifferenzierung ausdrücklich nichts liegt. Eine Arbeit am Begriff wäre für ihn Begriffsklauberei, bloße Sophistik, und liefe dem allgemeinen Harmoniestreben seines Fühlens und Denkens zuwider.

Selbst mit Begriffspaaren philosophiert Nitsch eher selten; vielmehr tragen seine Texte so etwas wie Ereignischarakter; er verzichtet auf logische abgeleitete und sprachlich nachvollziehbar gemachte Folgerungen; er verwirft, wie sonst nur Poeten, die Idee vom philosophischen Wert eines geschliffenen Begriffsinstrumentariums. – Ja, aber ist das dann noch Philosophie?

Gute Frage. Diesen Autor fasziniert von Natur aus alles, was die diskursive Enge sprengt und auf die saftigen Weiden der Spekulation hinaus führt; die Dinge murmeln eher einen Sinn, als sie ihn sagen; Nitsch verschränkt die wenigen Begriffe, mit denen er operiert, zu einem Kommentar seiner Arbeit und seines Lebens, und er vermeidet dabei alles, was den Geruch vernunftgeleiteter Strenge oder urbaner Intellektualität verströmt.

Nitsch eliminiert auch möglichst viel Diskursives aus dem philosophischen Sprechen. An Austausch und Kommunikation ist ihm wenig gelegen. Er begibt sich lieber allein auf den wilden Pfad und faßt in den Anschauung den Sinn, der darin verwahrt ist; anstatt sich vor das Publikum hinzustellen und beherzt das Wort zu ergreifen, umgarnt es Nitsch lieber; er bilanziert im Grund die Erfahrungen seines Lebens, fast verstohlen sucht er daneben auch noch Philosopheme aus Ost und West zu amalgamieren.

Dieses ergebnisoffene Verfahren hat Vor- und Nachteile. Zu den Vorteilen zählt, dass Nitschs Denken kein Ausschließungssystem (wie wahr/falsch) kennt, die Grenzen des Ausgesagten zum bloßen Meinen und Empfinden verlaufen fließend und werden bewusst durchlässig gehalten. Wer die Menschen kennt, denkt Nitsch, das mag klug sein. Doch wer sich selbst kennt, dem fallen die süßesten Früchte vom Baum der Erkenntnis in den Schoß.

Schön, werden Sie sagen: Aber ist das noch Philosophie? – Ich meine, ja. Denn wir haben es in dieser Schrift mit Thesen zu Fragen der Existenz von Allem zu tun; ihre teils trefflichen Maximen und Kardinalsätzen besitzen sogar den Beigeschmack des Exklusiven, der aus der Erfahrung gefilterten Weisheit.

Eines vor allem sollte der Leser/ die Leserin nicht vergessen: Nitsch will von seiner Klugheit selbst ergriffen werden. Die Litaneien und Redundanzen seines Denkens sollen ihn selbst zu einem Hochgefühl führen; er ist es, der sich von den eigenen Ideen überwältigen lassen will. Selbsteuphorisierung heisst das Programm, und tatsächlich haben viele der Sätze voll der  leeren Dinge mehr mit Dichtung als mit den abendländischen Denkregistern zu tun.

Blickt man sich aber in der Philosophiegeschichte ein wenig um, so ist diese satt von Gedankengängen, die uns mitreißen in den Strudel des Denkens und niemals an derselben Stelle wieder Boden unter den Füßen bekommen. Die Bewegung eines Logos lässt sich bekanntlich überall entdecken, und ist erst einmal eine Sprachkultur auf dem Weg, so macht sich diese über alles Mögliche her.

Nitsch ist nicht die Ausnahme, für die er gehalten werden könnte. Für den Denker aus Prinzendorf ist Philosophie allerdings mehr als das Luxusprodukt einer Wissenschaftskultur. Ganz ungeniert lässt er sich von einer Art denkerischem Instinkt leiten, dessen Ursprung er auf drei Offenbarungserlebnisse im Alter zwischen 18 bis 20 zurückführt. Diese drei Erweckungserlebnisse mit Natur, Landschaft und Lektüre in den Hauptrollen werden im 1. Band ausführlich geschildert.

Man kann es auch so sagen: Nitschs philosophisches Schreiben gleicht einem Privatsymposion im Lesehimmel der Seinsphilosophie, und zwar unter Missachtung sämtlicher Regeln der klassischen Denkdisziplinen. Statt um den Austausch mit anderen geht es bei ihm um existenzielle Selbstvergewisserung. Eine Knappheit im Ausdruck kennt er nicht. Stets wirken wuchtige Affirmationen und eine kontinuierliche Großzügigkeit des Sinns.

Was bei dem Privatsymposion am Ende herauskommt, ist eine Art Populärvariante der (parmenidisch-nietzscheanischen) Seinsphilosophie, wonach das Sein wirklicher ist als alle im Wandel befindlichen und vom Zufall bestimmten sinnlichen Erscheinungen. Das Sein ist für den Meisterdenker aus Prinzendorf eine unumstößliche Grundtatsache, wie Gott, sagt er (und  anders als bei Heidegger schließt er auch das »Seiende« in das Sein mit ein).

Der 1. Band der Triologie verlässt kaum das Stammland dieser Daseinsfestigkeit; er ist zur Gänze den geliebten Seinsattributen gewidmet; die 640 Seiten sind, wie Günther Anders sicher ätzend bemerkt hätte, »eine einzige Seierei«.

Unablässig, gebetsmühlenartig ist vom Sein die Rede: vom Aufgang des Seins, von der Geburt des Seins, vom Aufgehen des Seins, vom Austragungsort des Seins, von der Struktur des Seins, vom Wahrnehmungsgrund des Seins, und natürlich vom Sinn des Seins (ein angeblich »abgebrauchter« und »funktioneller« Begriff, der Sinn, auf Seite 61 dann aber doch wieder benutzbar): »Der Sinn von Sein liegt im Sein selbst«.

Als Synonyme für das Sein gelten nach Nitsch: Existenz, Dasein, Wirklichkeit, Tatsache, Selbstverständliches, Ereignis und noch einiges mehr. Das Sein ist das unbedingt Wirkliche. »Das Sein selbst gebiert sich aus sich selbst«.

Und anders als z. B. die 1921 geborene Dichterin Ilse Aichinger, will Nitsch sich das Sein immer bewusster machen. Wir, sagt er, seien heute einerseits (nach einer langen Geschichte der religiösen Verwirrung) im Begriff das Sein anzunehmen, andererseits es zu überwinden. Nur im Sein spüre man ewige Wiederkehr, den Fluss des Ganzen (115).

Von diesem Punkt aus sprießen auch in Nitschs 71. Lebensjahr noch die üppigsten Erlösungsfantasien der Gegenwart … glücksbesoffener als auf Radio Vatikan, herzhafter als beim Philosophischen Quartett, konsensorientierter als in Poonah – die Frage ist nur: erlöst wovon?

© Wolfgang Koch 2010

Hermann Nitsch: Das Sein. Zur Theorie des Orgien Mysterien Theaters. 3 Bd. im Schuber, 1186 Seiten, ISBN 978-3-222-13271-1, Styria Verlag 2009, EUR 140,-

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