vonWolfgang Koch 24.02.2010

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Die große philosophische »Seierei« des Hermann Nitsch kreist unausgesprochen auf der bewährten Umlaufbahn des deutschen Philosophen Max Scheler [1874 – 1928], über den Nitsch an anderer Stelle gesagt hat, er habe an ihm festgestellt, dass die Philosophen weit höher stünden als die Politiker.

Der Scheler’sche Ausgangspunkt: das absolute (von mir abgelöste) Sein ist alles, was je war, was ist und was je sein wird. – Vom diesem ungeheuren Seinbegriff gelangt Nitsch dann zum Selbst, dem zweiten Zentralgestirn seiner Weltdeutung. In dieser Frage ist er über Jahrzehnte ein konsequenter Jungianer geblieben: intensive Seinserfahrung ist nur im Selbst möglich; das Ich muss bei jedem von uns in einem Individuationsprozess zum Selbst hinauf wachsen, das sterbliche Eigene sich zur ewigen Existenz auswuchten.

»Nicht die Überwindung des Ich ist das Wesentliche, sondern seine Verklärung«. – Wo es aber um Verzauberung der Welt, genauer: um die Verzauberung des Eigenen geht, da lässt sich das Selbst komfortabel mit dem Nichts oder mit der Leere gleichsetzen. Allerdings stockt hier der Gedankenfluss dieser Schrift erstmals ein bisschen.

Dass das Sein auch das Nicht-Sein, das Nichts (das Unsagbare), mit umfasst soll, das wird von Nitsch geradezu gewaltsam behauptet, ohne dass er dafür einen überzeugenden Schluss anbietet. (Konsequent durchgehalten wird der Standpunkt übrigens auch nicht – auf Seite 149 bleibt selbst für Nitsch das Nichts übrig, wenn es das Sein nicht mehr gibt).

Grundsätzlich aber ist das Sein in dieser Literatur allumfassend, vampirisch; es saugt alles in sich ein. Denkgeschichtlich keine Novität. Eine oberflächliche Lektüre würde die häufigen Vermischungs- und Verschmelzungsfantasien von Nitsch vielleicht eher in der Nähe eine Dionysius Areopagita rücken als in die Nähe des Kosmologen Giordano Bruno.

Dionysius Aeropagita – ein Autor an der Wende vom 5. zum 6. Jahrhunderts, der noch Hugo Ball zu faszinieren vermöchte – schwärmte wie Nitsch von einem ungeteilten Weltall, in dem es alles liebt, mit sich selbst Frieden zu haben, geeint zu sein sowie im Hinblick auf sich selbst und seine eigenen Belange ohne Veränderung und ohne Unglück zu existieren.

Ohne Unglück und ohne Bitterkeit? In dem Punkt unterscheiden sich die Harmoniepriester ganz deutlich. Nitsch besitzt (vermittelt von Karl Jaspers) ein Bewusstsein des Tragischen – das Unglück, die Gewalt, die Katastrophe erscheint ihm ganz unausweichlich.

Für Dionysius Aeropagita war »das gänzlich Unstete, Unbegrenzte und Unendliche weder ein Seiendes noch in dem Seienden«. Eben um den Frieden einer einzigen und unauflöslichen Verflechtung des Universums beschwören zu können, erkannte er in dieser Trennung der Sphären schlechterdings die Voraussetzung jeglicher Existenz.

Da ist Nitsch aus einem anderen Holz geschnitzt. Das Tragische macht er zum Fundament des Seinsbewusstseins; und so wie sich die Seinsphilosophie in der Wirklichkeit »erfüllen« soll, soll die gegenwärtige Welt auch von ihren Irrtümern »erlöst« werden. Im 2. Band wird Nitsch dafür den Tod als Begründung nachliefern: »Augenblicke voll des Wunsches nach Wiederkehr sind es, durch die die Welt erlöst wird«.

© Wolfgang Koch 2010

Hermann Nitsch: Das Sein. Zur Theorie des Orgien Mysterien Theaters. 3 Bd. im Schuber, 1186 Seiten, ISBN 978-3-222-13271-1, Styria Verlag 2009, EUR 140,-

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