vonWolfgang Koch 15.03.2010

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Wie soll man Hermann Nitsch ansprechen? Gute Frage; das ist beim Mehrfachtalent dieses Mannes nicht einfach. Am besten als »Künstler ohne Pinsel«, als »Dramatiker ohne Worte«, als »Komponist ohne Noten«, als »Analytiker ohne Coach«, als »Philosoph ohne Erkenntniskritik«.

Nitsch ist ein enthusiastischer Seinsgläubiger. Er verhandelt immer weiter den historischen Gegensatz von Existenz und Essenz (497), als wollte er auch in diesem Punkt Heidegger korrigieren.

Traditionell kommt die Existentia (das vorhandene Sein, Vorgegebenes, die Frage nach dem Daß) vor der Essentia (dem Wesen, dem Was-sein der Existenz, der Frage nach dem So-sein), sie geht ihr logisch voraus. Erst was vorhanden ist, kann ja Eigenschaften annehmen. Nach Heidegger wird erst in der »auslegenden« Existenz des Menschen festgestellt, »was« etwas »ist«: das Existenzielle legt aus, das Existenziale bewegt sich in ihrem Fahrwasser.

Nitsch verhandelt das Problem auf u. a. auf der Ebene der Entwicklungspsychologie. Ein Kind fragt aber nicht: »Wer hat mich entstehen lassen?«, oder gar: »Wer hat alles entstehen lassen?« (413). Ein dreijähriges Kind fragt peinhart: »Wo bin ich früher gewesen?«

Nitsch meint, ein Kind würde sich sagen lassen, dass es »ein Ereignis gibt, welches uns ins Ereignis bringt«. Das macht auch dann keinen pädagogischen Sinn, wenn wir anstelle von »Ereignis« den Crash der Spielzeugeisenbahn setzen. Man kann in Kindern kein Bewusstsein dafür schaffen, dass sie selbst es sind, die die Welt wachsen und entstehen lassen und erhalten (414) – und zwar, weil sie der Welt erst einmal gegenüber treten müssen.

Soll man diese Gespaltenheit in Ich und Welt etwa verhindern? Nitsch meint das vielleicht. Ihm ist alles recht, um die Fluchtmöglichkeit des Geistes in den Begriff Gott  zu torpedieren. Aber wieso eigentlich? Weil unter dieser Chiffre Gott schon soviel Unsinn geredet worden ist? Es wird kein Jahrtausend dauern, bis die unter dem Banner der Seins-Philosophie geschlagenen Schlachten ebenso viele Kadaver hinterlassen haben werden.

Kriege, sagt Nitsch in diesem 2. Band, sollen »ehrlich ausgetragen werden« – ohne Ideologien und ethische Rechtfertigungen. Was für ein trübseliger Gedanke! Sicher vermag sich ein Schlossbesitzer den Krieg wie die Verteidigung der Duellehre vorzustellen, also irgendwie männlicher und eleganter, aber Ideologien sind Waffen, und was den kollektiven Kampf seit der schimpflichen Steinzeit nun mal auszeichnet, ist, dass er tendenziell alle Waffen zum Töten gebraucht.

Sigmund Freud ist übrigens nicht der »Entdecker des Unbewussten« (424), um einem beliebten Wiener Vorurteil entgegen zu treten – diese Leistung haben während des 19. Jahrhunderts ein abgerundetes System der dynamischen Psychiatrie und die deutsche romantische Philosophie (Carus, Hartmann, Schopenhauer) erledigt.

An anderer Stelle ist von »restpatriotischen Exzessen in Ex-Jugoslawien« zu lesen – das klingt ansteckend flott, aber Restpatrioten sind gerade noch als Patrioten anzusprechen, und das waren die serbischen Sniper in Sarajewo eben nicht; diese paramilitärischen Killer mit der Ideenassoziation eines wertvollen Volkstums waren von chauvinistischen Hetzern fanatisierte Superpatrioten.

Und noch ein paar Kleinigkeiten: Wenn man in den Raum stellt, dass der Schrei als Zustand aller Reflexion überlegen sei (427), dann sollte man auch angeben können, wobei. Der Zen-Buddhismus ist keineswegs die »späteste Religionsform«, die wir kennen (492) – Caodai ist neueren Datums, Rastafarismus, zahlreiche Synkretismen des Voodooo, usw.

Die Liebe, diesen »strahlenden Zustand des Hierseins«, vermag sich Nitsch nur hetero und als notorischer Wagnerianer (»Tristan und Isolde«) vorzustellen. Für ihn ist Liebe nicht jenes erstaunliche Bewusstsein von uns, in dem sich unsere Aktualität offenbart. Für ihn ist Liebe identisch mit Seinsumfassung, und die schöne Wollust kettet er, wie ein Prediger des 15. Jahrhunderts, an die Fortpflanzung (500).

Es gibt aber auch bewunderswerte Sätze in diesem 2. Band der Philo-Triologie von Nitsch. »Der Sonnenuntergang formuliert Tag und Nacht, bewirkt die Lichtlosigkeit der Nacht«, ist so ein Satz. Freilich, über die auf dieses Wort folgende Wendung ließe sich schon wieder trefflich streiten: »Die ewige Verwandlungsfähigkeit des Werdens löst Zeitlichkeit aus.«

Nitsch ordnet das Zeitliche vollkommen dem Ganzen des Seins zu (516). Ich meine dagegen, im Wechsel von Tag und Nacht allein wird noch gar nichts; was wächst, das braucht den Sonnenschein – weshalb man den Tag-Nacht-Rhythmus für sich genommen noch nicht als Qualität des Werdens ansehen kann. Dass die Sonne scheint: das ist für den Gedankengang erheblich; nicht dass ihr Nichtscheinen regelmäßig wiederkehrt. Zwischen Zeitlichkeit und Werden (Wachsen) besteht somit kein Kausalzusammenhang.

Gewiss, das sind Kleinigkeiten; ich will die Fehler und falschen Schlüsse nicht als Beweismaterial gegen einen großen philosophischen Wurf ins Treffen führen. Tatsächlich kann kein Zweifel daran bestehen, dass hier ein Künstler so schöpferisch und klug im Kulturgebäude vorgeht, dass der Text zu einer Philosophie oder einer Diätetik der Seele wird.

Wir haben es bei Nitsch mit Sinnesreizen zu tun, die auf eine Veränderung des allgemeinen Daseinsbefindens abzielen; mit kognitiven Einsichten, die unser Körpergefühle korrigieren; mit Lockerungen und Auflösungen von Gestimmtheiten, mit dem Selbst-Wiederaufbau der Persönlichkeit durch Schauung. Das ist eine Menge mehr als andere Zeitgenossen zu bieten haben.

Hat Nitsch gegen Ende des 1. Band die Lichtmetaphorik angesprochen, gilt ihm im 2. Band der Gral schon wieder als etwas anderes: nämlich als »Symbol für die Sublimierung des Sexuellen zu ungunsten des Verdrängens«. Wie sollen wir darüber urteilen: Ist der Grals nun ein Symbol für das durch sich selbst bewusst gewordene Sein? Oder doch für eine Sublimierung des Sexuellen?

Solche Widersprüche sind inkonsequent innerhalb eines philosophischen Werkes. Als feuilletonistische Behauptungen taugen sie freilich immer noch im Reich des Geistes, um den frivolen Gütern und frostigen Vergnügungen der Welt Höheres abzulauschen.

Auch Emo hat den Gral 1972 als Lichterscheinung interpretiert, aber konzentrierter, und unter dem Vorzeichen der Aktualität: als Bewusstsein der Negativität, d. h. als die ewige Wunde des Bewusstseins, die die Aktualität ausbluten lässt; als Bewusstsein, das die Wunde heilt, weil es die Wunde selbst ist, die die Aktualität hell werden lässt. Für Emo war sie »das Licht des Brandes, das Licht der Zerstörung«.

© Wolfgang Koch 2010

Hermann Nitsch: Das Sein. Zur Theorie des Orgien Mysterien Theaters. 3 Bd. im Schuber, 1186 Seiten, ISBN 978-3-222-13271-1, Styria Verlag 2009, EUR 140,-

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