Der 3. und umfangreichste Band des Nitsch’schen Seins-Opus wartet mit einer weiteren Überraschung auf. Hat sich der Autor in den beiden ersten Bänden strikt geweigert, Begriffsdefinitionen zu geben, so bricht er nun bedauernd diese ungeschriebene Regel: »Man weiß, dass ich von exakten Begriffsdefinitionen nichts halte. Trotzdem versuche ich die oft verwendete einigermaßen dazulegen«.
Warum er seine Meinung geändert hat, das erfahren wir nicht. Aber die Sache ist auch so klar: Bedeutungstraditionen müssen in einer derart breiten Abhandlung wie dieser irgendwann einmal mit einbezogen werden. Hermann Nitsch geht dabei gründlich vor. Er unterscheidet 13 Synonyme für das Sein (Geist, Gott, Kosmos, Mystik, Natur, Nichts, Leere, Pantheismus, Schöpfung, Seele, Tao, Werden, Wille) und 11 weitere Begriffe.
Dieser verspätete Defintionsschlacht folgt eine knappe Untersuchung der philosophiegeschichtlichen Rezeption des Seins, und zwar anhand von 23 abendländischen Denkern. Den Anfang im Reigen macht Anaximander mit dem ersten erhaltenen Satz der okzidentalen Philosophie überhaupt.
Zum Urvater des Seinsdenkens (im Sinn einer sich in der totalen Gegenwart offenbarenden Ewigkeit) aber wird Parmenides erkoren. Empedokles ernennt Nitsch zum »Nichter des Todes«; und Platon stempelt er zum großen Verräter, da er dem Christentum, der mittelalterlichen Scholastik, dem deutschen Idealismus und Schopenhauer den Weg zur Entwertung des Stofflichen zugunsten einer abgehobenen Sphäre geebnet habe.
Also Parmenides: gut, Platon: böse. Keine Überraschungen bieten die Skizzen von Meister Eckehart, Thomas von Aquin (»Gott hat absolutes Sein«), Angelus Silesius, Baruch Spinoza. Nur dass sich Giordano Bruno und J.W. Goethe in der Liste finden, das erstaunt dann doch wieder.
Hegel referiert Nitsch unter tunlichster Vermeidung des Wortes Dialektik. Schopenhauer ist für ihn eine Art Matrize zu Nietzsche, der das Sein als Leben erkannte; Jasper verdankt Nitsch das schon bekannte Bewusstsein des Tragischen, Heidegger »ungeheuer viel«, Sartre nur mehr ein wenig.
Überraschend ist nur Name unter den angeführten Ontologen: Nicolai Hartmann. Ich habe an anderer Stelle – nämlich im Nachwort zu Blut in den Mund. Hermann Nitsch am Wort (2008) –, auf lebensphilosophische Quellen wie Carl Gustav Carus und Ludwig Klages hingewiesen, auf den Religionsphilosophen Walter Schubart und die Neomythologen Alfred Schuler und Odo Casel. Von ihnen findet sich keiner in der Liste.
Statt auf den Diskursbegründer der Lebensphilosophie, Friedrich Schlegel, stoßen wir auf Friedrich Schelling. Und der von Nitsch unter Garantie sorgfältig rezipierte Max Scheler findet erstaunlicherweise überhaupt keine Erwähnung mehr.
Was bedeutet das? Zunächst, dass Nitsch sich sukzessiv von einer Philosophie des Organischen entfernt; das Biologische und die Wahrnehmungslehre stehen nicht mehr so dominant im Zentrum wie in früheren Schriften. Zwar ist auch der neue Nitsch zutiefst davon überzeugt, dass das Erleben imstande sei, uns den Bereich der Wirklichkeit aufzuschließen. Doch die vortheoretische, sinnlich-ganzheitliche und unreduzierte Lebenserfahrung ist nur mehr der Ausgangspunkt einer ausgreifenden philosophischen Lehre.
Woran Nitsch freilich festhält, das ist das Erkenntnisprinzip der Lebensphilosophen. Er stemmt weiterhin Intuition, Stimmung und Schauung hoch; aber neben diese ist ein geistiges Durchdringen der Welt getreten, eine Denkarbeit, die sich nicht mehr auf Zufälle verlässt. Das authentisch-eigenleibliche Spüren vermag die Erfahrung des Wirklichen nicht mehr so gründlich zu erhellen wie in den Hauptschriften der 1970er- und der 1990er-Jahre.
© Wolfgang Koch 2010
Hermann Nitsch: Das Sein. Zur Theorie des Orgien Mysterien Theaters. 3 Bd. im Schuber, 1186 Seiten, ISBN 978-3-222-13271-1, Styria Verlag 2009, EUR 140,-