Wie bereits im Vorjahr bieten wir in den nächsten Wochen kostenlose Blattkritik. Ob eine Presselandschaft von Wert ist oder nicht, entscheidet sich bekanntlich nicht an den Dumpfmedien. Schlechte Zeitungen sind überall schlecht; die Qualitätsskala (siehe NÖN, Heute, täglich Alles, Österreich) ist nach unten gähnend offen.
Dass Wiens Feuilletonstuben finanziell unterdotiert und personell unterbesetzt sind, dass sie von ihren Mutterredaktionen stiefmütterlich behandelt werden, geht aus vielen Details hervor. Ein Vergleich des österreichischen mit dem deutschen oder mit dem schweizerischen Großfeuilleton ginge fürchterlich aus.
Seit dem letzten Vergleichtest hat sich einiges an den Rahmenbedingungen für intelligenten Journalismus in Wien geändert: die Tageszeitung »Der Standard« integrierte erfolgreich ihre Reisebeilage in die Wochenendbeilage ALBUM. Und das SPEKTRUM der »Die Presse« ist jetzt nur mehr gegen volle Bezahlung der Samstagausgabe zu haben; statt der beliebten Samstagausgabe hängt mittlerweile am Sonntag ein vollkommen überflüssiges Produkt namens »Die Presse am Sonntag« zur quasi freien Entnahme aus.
1. Platz: SPECTRUM der Tageszeitung »Die Presse«, Redaktion: Karl Woisetschläger
Wann werden Bukarest-Artikel endlich einmal nicht mehr mit Bildern von ehemaligen Regierungspalast der Kommunisten illustriert? Dieses Klischee ist ärgerlich – doch der dazugehörige Text von Karl-Markus Gauß ist es zum Glück nicht. Keine Selbstverständlichkeit bei einem Vielschreiber dieses Kalibers (wie wir 2009 gesehen haben). Zwar schwingt sich der Inhalt des Artikels in keiner Zeile zu den Höhen des Films auf, den der Titel Lost in Bucureşti zitiert, auch Gauß hakt erst mal rumänische Stereotypen ab: Zigeunerinnen, streunende Hunde, er plaudert mit einem Taxifahrer über Fußball und Politik – doch am Ende landet der Autor gekonnt in seinem »persönlichen und imaginären Europa« der antitotalitären Literaturgeschichte.
Vorbildlich eine Glosse zur Wiener Stalin-Gedenktafel von Gerhard Drekonja-Kornat, die nunmehr die letzte überhaupt sein soll.
Dann folgen fünf dröge Spalten über die vertrackte Baugeschichte des Großen Festspielhauses zu Salzburg. Das mag ein Schmankerl für Clemens-Holzmeister-Kenner sein, uns blieb der tiefere Sinn dieser Umbaugeschichte einer theatralischen Architektur verborgen. Hier hat sich ein für die Fachzeitschrift verfasster Text ins Feuilleton verirrt.
Jazz für die Ewigkeit ist eine mäßig interessante Reportage über New Orleans, fünf Jahre nach dem Hurrikan »Katrina«, überschrieben.
Im Rezensionsteil beurteilt Madeleine Napetschnig den Alpenbegeher Martin Prinz, dessen Buch zwar schon Monate aufliegt, aber eben aus der Flut der »Zufußgehliteratur« herausragt. Am Rande des Artikels wird auch endlich einmal der Kärntner Antiwanderer Gerhard Pilgram gewürdigt.
Ein Buch über den Umgang mit chronischen Schmerzen und ein weiteres über neue Moden in der Rechtsextremisten-Szene werden gebührend kurz behandelt. Martin Pollak versucht uns die »nichtepische« polnische Schriftstellerin Magdalena Tulli näher zu bringen – wofür allerdings das hingehauchte Adjektiv »wunderbar« nicht ausreicht.
Literatur-Redakteur Harald Klauhs überhebt sich beim Versuch ausgerechnet den reaktionären Austrohungaristen György Sebestyén, der Hermann Nitsch einmal als »Sexualanarchisten« beschimpft hat, aus der Versenkung zu holen. Das Experiment gelingt, wie Klauhs im letzten Satz eingestehen muss, nicht.
Wolfgang Müller-Funk, nach Gauß der zweite Vielschreiber dieser Ausgabe, widmet sich dem literarischen Soziogramm des ungarischen »Lagervolks« der 1940er-Jahre von Istvan Örkény. Er stellt das Buch wohlbegründet über Herta Müllers Atemschaukel.
Auf der Spielseite kommt der pensionierte Presse-Redakteur Dieter Lenhart zu Wort, der seit nunmehr 24 Jahren das gereimte Kreuzworträtsel auf der letzten Seite des SPEKTRUMs verfasst. Lenhart, Ex-Innenpolitikchef des Blattes, bekennt selbst kein guter Rätsellöser zu sein. Um eines zu erstellen, benötigt er acht Stunden. Nachdrücklich gibt Lenhart in diesem Gespräch zwei Generaltugenden des Journalismus bekannt: 1. ständige Aufmerksamkeit, 2. Rücksichtnehmen auf die Kenntnisse des Lesers.
Auf der Architektur-Seite widmet sich Christian Kühn dem total unterschätzen Beruf des Fountainers und wagt – was in kunsthistorischen Abhandlungen rar ist – eine ikonologische Deutung des Belvederegartens. Bravissimo!
Zum Schluss hat sich in die Rubrik Damals schrieb Die Presse, in der es um die Enthebung des Militärgouverneurs von Ungarn 1850 geht, ein falscher Subtitel eingeschlichen. Macht nichts! Ein klarer Sieg vor der Konkurrenz.
2. Platz: EXTRA der »Wiener Zeitung«, Redaktion: Gerald Schmickl
Das EXTRA widmet sich der letzten WM-Woche gleich dreimal dem Thema Fußball. Ressortleiter Schmickl beehrt uns zu wissen, dass er fälschlicherweise auf Weltmeister Brasilien getippt hat, und sein deutschstämmiger Kollege Hermann Schlösser widmet sich aus dem eine Woche zurückliegendem Anlass einem angeblichen Wandel im deutsch-österreichichen Mentalitätsverhältnis – ein gleich mehrfach selbstreferenzieller Text, völlig überflüssige Befindlichkeitsschreibe und dazu auch noch als Auftakt der Beilage. Schlösser versucht uns u. a. weißzumachen, in Wien würden heute mehr Menschen mit deutschem als mit türkischem Migrationshintergrund leben. Das ist selbst ohne Hinzurechnung der Kurden falsch.
Unreflektiert auch die nebenstehende Buchrezension. Wo in Österreich wird der Deutsche als ein »oft heimlich bewunderten großen Bruder« angesehen? Bitte um Namen, Adressen, Fakten.
Es folgt eine brave, d. h. langweilige Reportage über das deutsche Ruhrgebiet als europäische Kulturhauptstadt 2010. Wir erfahren etwas über die Kokerei als UNESCO-Weltkulturerbe und über eine Sammlung moderner Kunst. Dann dürfte eine Schlösser-Zeile ein paar Spalten nach hinten verrutscht sein: »Der Fußball ist die Brücke zwischen den Kulturen, zwischen Menschen aus 170 Nationen«.
Wirklich gut in dieser EXTRA-Ausgabe sind nur zwei Beiträge: einer von Peter Markl über neuere Evolutionstheorien (hier wird das Thema der Wissenschaft als moderne Konspirologie angeschnitten, und außerdem wird daran erinnert, dass Charles Darwins Selektionstheorie erst durch statistische Methoden im 20. Jahrhundert untermauert werden konnte).
Der zweite gelungene EXTRA-Artikel ist ein Portrait des österreichischen Schriftstellers Herbert Zand von Christian Teissl. Der Autor feiert Zand, der vor 40 Jahren starb, als Meister der kleinen literarischen Form und liefert im übrigen zwei kluge Thesen zur Frage, warum diese Schriftsteller an seinen eigenen strengen Ansprüchen scheitern musste: weil das a) das Schicksal seiner Generation war und weil b) Zand unsichtbar werden wollte.
Dass Hobbyknipser im Zeitalter der Digitalfotografie den Paparazzi das Geschäft versauen, das hätten wir uns denken können. Dafür braucht es keine ganze Zeitungsseite, auch wenn uns Autor Michael Ossenkopp mit mehreren Deutungen bekannt macht, wie Italo-Regisseur Fellini vor 50 Jahren überhaupt auf den Namen Paparazzo gekommen sein könnte.
Auf der Interviewseite nochmal Fotografie. Hier spricht Andreas Kövary mit dem Magnum-Pionier Erich Lessing. Der Text lebt in keinem Absatz, weder Rede noch Widerrede, das Interview ist eine bloße Abfrage von Berufs- und Lebenserinnerungen. Erstaunlich immerhin Lessings treffende politische Einschätzung des Ungarischen Aufstands 1956 und seine klarsichtige Analyse des Scheiterns der Europäischen Union am Armutsgefälle zwischen Nord und Süd.
Die Bücherseite erfreut uns mit einem Foto des deutschen Autors Benjamin von Stuckrad-Barre, der irgendetwas über Deutsche verfasst hat. Das Bild belegt zweifelsfrei Stuckrad-Barres Zwillingsverwandschaft mit dem österreichischen Rechtspolitiker und ehemaligen Haider-Initimus Stefan Petzner.
Auf der music-Seite wabbern wie jede Woche Kommentare zu Gitarrenpop, Folkpop und Blues-Folk – als ob es die Stilrevolution von House und Techno nie gegeben hätte. Alle besprochenen Scheiben klingen »wunderbar« oder »eindringlich«, »warmherzig«, »pfiffig« »leidenschaftlich«, »zerbrechlich«, eine Aufnahme changiert angeblich »zwischen stiller Tiefe und intensiver Aufgewühltheit«. Hier schreiben Sehnsuchts-Hörer.
Die Kolumen-Seite ist bis auf einen Kurztext zur sozialdemokratische Wiener Fotografin Edith Suchitzky zum Vergessen, und selbst da hängen noch neun Autorenzeilen dran, statt das Foto größer zu bringen.
Die letzte Seite des EXTRA war früher einmal eine Klasse für sich, ein publizistischer Freiraum, der zeitgenössischen Kunst gewidmet. Das war gut so. Diese Woche aber stoßen wir an der Stelle auf Abbildungen aus einer Ausstellung und einem gesichtslosen PR-Text. Um diese Schleichwerbung in redaktioneller Verkleidung nicht weiter zu unterstützen, bleibt das Thema hier ungenannt.
3. Platz: ALBUM der Tageszeitung »Der Standard«, Redaktion: Christoph Winder
Das ALBUM bietet am Titel ein knallschönes Kinderfoto in Schwarzweiß. Es illustriert vier Originaltexte von österreichischen Gegenwartsautoren zum Thema Kindheitssommer. Das ist eigentlich eine typische Idee der konkurrierenden SPEKTRUM-Redaktion – und tatsächlich geht sie im ALBUM ziemlich baden.
Paulus Hochgatterer lässt uns gleich wissen, dass er nicht weiß, wie er seinen Kindheitssommer beschreiben soll – versucht es dann aber leider doch. Auch Margit Schreiner und Arno Geiger landen auf Schulaufsatzniveau (»… half ich der Cousine den Stall fertigausmisten«). Einzig Andrea Dusl rettet den Redaktionsauftrag, indem sie den Sommer personifiziert und uns mit angehaltenem Atem durch eine Bildergalerie hetzt.
Kolumnen sind im ALBUM selten. Nur Christoph Winder witzelt über seinen schwitzenden Kater.
Interessant der Architekturbeitrag über »eigeneffiziente Solar-Domizile«. Der Artikel berichtet von einem internationalen Wettbewerb zur Fortschreibung des berberisches Hauses und seiner schon sprichwörtlichen Energievorteile. Leider bedient sich Jan Margot im Text einer ausgesprochen snobistischen Fachsprache (»Blickfang-Topping«, »hochkarätige Jury«) und verschenkt damit das tolle Thema, das bis zur Idee der Aufwindkraftwerke zurückführt.
Die Bücherseite des ALBUMs kann sich diese Woche sehen lassen. Alexander Kluy rezensiert konstruktiv ein Hörbuch über Bernhard Grzimek und Kurzgeschichten von John Glassco (1909-81). Ingeborg Sperl allerdings hat keinen blassen Schimmer, mit welch ausdifferenzierten Wien-Klischees die heimische Touristenwerbung inzwischen arbeitet.
Eine Ankündigung der neuen Ausgabe der Literaturzeitschrift Wespennest wird im ALBUM mit dem gekonnt schwachsinnigen Titel »Feuchtgebiete, Populismen, Weltbürgertum« versehen.
Auf Seite 6 finden wir ein risikoloses Portrait des linken Berliner Verlegers Klaus Wagenbach, der dieser Tage seinen 80. Geburtstag feiert. Die Verdienste Wagenbachs um Franz Kafka und die italienische Literatur werden gebührend hervorheben. Vor allem aber kam die Redaktion hier nicht auf die dumme Idee, uns das Material als Interview vorzusetzen (siehe EXTRA).
Während in der Die Presse schon seit dem 2. Juli eine Debatte über Stephans Schulmeisters Thesenbuch Finanzkrise: Schritt für Schritt zum Abgrund läuft, reagiert das ALBUM darauf mit der herrlich durchgeknallten Rezension eines emeritierten Ökonomieprofessors. Zitat Erich Stresslers: »Jeder Anwärter auf den Ruf eines Denkens sollte dieses Buch zumindest gekauft haben!« – Wer dieses publizistische Gestotter heutiger Wirtschaftswissenschafter buchstabengetreu liest, wird sich über die Finanzmarktkrise keine Minute länger wundern. Geschwätzigkeit statt intellektuelle Disziplin, Lob für profunde Kenntnisse statt Widerspruch, Plattitüden (neues Wirtschaftswachstum durch Erneuerung der Energieversorgung herstellen) statt systematischer Analyse.
Auf der Spiel-Seite des ALBUMs erfahren wir, dass Chè Guevera (der im liberalen Blatt natürlich nur »Che« heißt) ein Schach-Aficionado war.
Die Kunstmarkt-Seite beschäftigt sich mit einer kroatischen Porzellan-Kollektion, die im Palais Liechtenstein zu sehen ist und mit den Auktionsergebnissen zum Lokalphänomen Max Weiler.
Auf der letzten Seite noch einmal Literatur. Dort verwurstet österreichische Literat Franzobel, ein Karl Heinrich Waggerl der Nullerjahre, Biographisches zum Dirigenten Carlos Kleiber. Franzobel stopft den Inhalt einem Kleiber-Fan in den Mund. Sonst wäre es ja keine Literatur! Und schon geigen die Philharmoniker »fuchtsteufelswild« oder spielen »wie um ihr Leben«.
Gerettet wird das ALBUM ausgerechnet vom schwindligen Reisejournalismus – schwindlig, weil Berichte von Pressereisen stets die Grenze zur PR tangieren. Um die Seriosität des Blatts zu wahren, bedienen sich dann viele Reisejournalisten des Humors. Das gelingt Sascha Aumüller bei der Beschreibung einer Kreuzfahrt nach Oslo sehr gut. Es ziehen in diesem Bericht »Minikreuzfahrer«, »Kurzkreuzfahrer« und sogar »Kürzestkreuzfahrer« vorbei. Wir besuchen eine zentrale Einkaufsstraße, »über der Wikingerhelm haben wollende Kinder aus Kabinenfenstern winken«. – Dieser Ton gefällt, die Sätze stehen locker und launig da.
Detto bei der Maultierpfad-Empfehlung für das Tessin. Freilich verlangt das Reisefeuilleton Vorbildung. Den vornamenlosen Malkünstler Munch dürfte noch jede Mittelschulabgängerin kennen; bei »Bakunin, Hesse, Berlusconi« bin ich mir da nicht mehr so sicher.
Der Wanderempfehung zum Warscheneckgipfel von Bernd Orfer fehlt es an stilistischer Trittsicherheit. Nur im tiefen Österreich kann der Satz »Das Tote Gebirge ist trotz seiner ausgedehnten, wasserlosen Flächen nicht leblos« als originell durchgehen.
© Wolfgang Koch 2010