vonWolfgang Koch 24.07.2010

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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1. Platz: EXTRA der »Wiener Zeitung«, Redaktion: Gerald Schmickl

Überraschung: das EXTRA schießt in der Wochenwertung nach oben, allerdings nicht dank einer feuilletonistischen Spitzenleistung, sondern weil sich das intellektuelle Niveau der Artikel diesmal auf ein halbwegs berechenbares Maß eingependelt hat, während bei der Konkurrenz weiterhin Tohuwabohu herrscht.

Zu Beginn vier Seiten Italien. Das erinnert uns an die unseligen monothematischen Zeiten dieser Blattbeilage, doch ist das Thema Italien, wie es hier geboten wird, ausreichend abwegig, um in einer mit Bizzarien überfütterten Zeit bemerkt zu werden.

Zunächst eine Geschichte nach dem »Don Camillo und Peppone«-Muster: Wie kam das Voralpendorf Montanér im Veneto zu einer christlich-orthodoxen Kirchengemeinde? Autor: Günther Schatzdorfer.

Dann die steinerne Architekturutopie (»La Cittá Ideale«) des Mailänder Architekten Tomaso Buzzi [1900-81], kenntnisreich erkundet von Petra Regensburger.

Viel zu ausführlich: ein Text von Arthur Fürnhammer über Mailands Sehnsucht nach einem Meerhafen im 19. Jahrhundert.

Es folgt eine Würdigung des Hamburger Volksschauspielers Hans Albers zu seinem 50. Todestag. Leider zitiert Autor Martin Kolozs nicht jene glückliche Zeile aus »La Paloma«, mit welcher der singende Albers NS-Reichspropagandaminister Joseph Goebbels zur Weißglut trieb.

Ein feines, wenngleich im Amtsblatt-Layout hässlich dargestelltes Interview mit dem dänischen Familientherapeuten Jesper Juul, die Fragen stellte: Natascha Mahle. »Gott sei Dank«, sagt Juul, »sind sich die Erziehungsexperten heute nicht einig. Die Eltern müssen ihre eigenen Antworten finden«. Regeln seien in der Erziehung schlecht und Lernen ein »natürliches Verlangen von Kindern«. – Mögen diese vernünftigen Sätze modernen Schulanimateuren im Hals stecken bleiben!

Sehr gut auch ein Portrait des französischen Schriftstellers Julien Gracq, um den sich der Grazer Droschl Verlag verdient gemacht hat. Ingeborg Waldinger reicht dazu gut gekühlte Lesempfehlungen. Nur einmal geht die Bewunderung mit ihr durch: »Der Schriftsteller Gracq webt an einer Schutzmembran gegen die Übel der Welt, welche dennoch wie dunkle Blitze durch sein Werk irrlichtern«.

Rolf-Berhard Essig berichtet kundig von Redensarten, mit denen er eine Vortragsreise durch deutsche Altenheime bestritten hat. Eine Viertelmillion Sprichwörter soll es allein im deutschen Sprachraum geben.

Auf der Literatur-Seite ein Nachruf von Manfred Chobot auf den kürzlich verstorbenen Mundartdichter Bernhard C. Bünker [1948-2010]. Letzter Gruss des krebskranken Kollegen in der Mailbox: die Speisekarte vom Leichenschmaus.

Auf der music-Seite hat sich die Redaktion dazu aufgerafft, auch mal für Songwriter und Weltmusik ein paar Zeilen abzuwerfen.

Die Kommentar-Seite ist, wie in der Vorwoche, nicht der Rede wert. Die Fotografie-Kolumne behandelt die verschämte Nacktheit auf Postkarten zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Und die Galerie stellt mit Bildern von Claudia Jäger und ein paar Gedanken zur macchia, dem Farbfleck, ihre altbewährte Kompetenz als Spielwiese wieder her.

 

2. Platz: SPECTRUM der Tageszeitung »Die Presse«, Redaktion: Karl Woisetschläger

Grandios ist nur ein einziger Text, und der ist kein Originalbeitrag, sondern der Vorabdruck eines Buches. Das heißt der Text wurde nicht von der Redaktion beauftragt und bearbeitet, sondern hat das sorgfältige Lektorat eines Großverlags durchlaufen. Die SPEKTRUM-Redaktion schmückt sich hier gewissermaßen mit fremden Federn.

Zufällig geht es in diesem tollen Text um das Arbeitsverhältnis eines Schriftstellers zu seinem Lektor. Der Kurzessay stammt aus dem Laptop des derzeit wohl geistig und sprachlich beweglichsten unter den österreichischen Autoren, Clemens Berger, und er ist uneingeschränkt empfehlenswert. Vor allem zukünftigen Autoren, die sich ein Bild von zeitgemäßer literarischer Arbeit am Text machen möchten.

Gut fällt auch eine Besprechung von Karl-Markus Gauß neuen Reisessays durch Julia Kosbach aus. Aber die Schreibfabrik Gauß war in den letzten Wochen ohnehin Dauergast im Wiener Feuilleton. Warum also diesem Autor noch eine weitere volle Seite widmen, noch dazu in diesem anhimmelnden Ton? Weiß denn nicht schon alle Welt, dass Gauß ein Paradeeuropäer ist, dass er als Reisender und Lesender stets das Abgelegene liebt und dass er jede Zeile tüchtig mit Bildungsbürgerlichkeit durchtränkt?

In der F.A.Z wird unter dem Titel »Jugend schreibt« jede Woche eine Seite dem journalistischen Nachwuchs gewidmet. Die dort publizierten Texte sind keine Schulaufsätze mehr, aber auch noch kein Journalismus. Es sind biedere erste Schritte in der Öffentlichkeit.

Auf diesem »Jugend schreibt«-Niveau liegen zwei Artikel des SPEKTRUMs: das Portrait eines männlichen Heimpflegers im Burgenland und der Bericht über ein interkulturelles KünstlerInnen-Symposion in der Steiermark. Im letzteren Beitrag behauptet der Verfasser Wolfgang Freitag bei jedem von uns würde in einem hinteren Winkel noch ein altes Schulskelett klappern. Also in unserem Schrank klappert nichts.

Der Zeithistoriker Kurt Bauer widmet sich der Frage, ob Hitler und Mussolini in einem Vieraugengespräch zur Österreich-Frage im Juni 1934 krass aneinander vorbeigeredet haben. Neues fördert Bauer nicht zutage, da er nur deutsche Quellen benutzt.

Von Lydia Mischkulnig druckt man literarische Dutzendware. Ein Zitat aus diesem Romananfang: »Ich spüre in mir ihre Tränen aufsteigen. Und als sie aus meinen Augen tropften, roch ich einen nassen Hund«.

Unter den begründet verworfenen Büchern ein Roman der Köhlmeier-Gattin Monika Helfer (»blutarm«) und der literarische Reißer eines Ex-Stern-Chefredakteurs (»gelehrter Habitus«, siehe auch ALBUM). Lob hingegen für den autobiographischen Roman der Journalistin Sheila Graham, der sich angeblich »verdammt gut liest«.

Gabriele Sorgo referiert die in einem weiteren Buch vorgebrachte Kritik am »endemisch um sich greifenden Körperhass« von Susie Orbach (Bodies, Arche Verlag). Frauen leiden heute angeblich unter einem permanenten Selbstcheck, angeleitet durch die Medien. Aber unser Hirn sei gar nicht dazu geschaffen, sich gegen die Bilderflut zur Wehr zu setzen. Schönheitsnormen hätten moralische Kriterien ersetzt. – Kurz: delirierender Katastrophismus angesichts der Macht von Pharmaindustrie und Nahrungsmittelkonzernen. Wie wär’s zur Abwechslung mal mit der Vorstellung, dass die Wirkung der Manipulationswelt auch ihr Gutes hat: sie trennt die Streu vom Weizen; wir Intellektuellen können froh sein, dass die Masse nach gesellschaftlicher Anerkennung lechzt und uns in Ruhe lässt.

Das Herabsehen auf die Ungebildeten hat im SPEKTRUM System. Für die Titelgeschichte haben sich eine Kommunikationswissenschaftlerin (Irene Neverla) und ein Klimaforscher (Hans von Storch) zusammengetan, um über den medialen Aufstieg des Themas Klimawandel zu beraten. Die beiden Deutschen erklären mit viel phrasenhaftem Pathos, was ohnehin jedes Schulkind weiß: wie Medien funktionieren, wie der Wissenschaftsbetrieb funktioniert. Am Schluss der unvermeidliche Ruf nach dem Citoyen: »Wo bleiben Staatsbürgerinnen und Bürger, die klimarelevante Entscheidungen treffen sollen?« – Erkenntnisgewinn null.

Auch auf der Spiele-Seite wird ein drängendes Gegenwartsproblem gewälzt: Warum gibt es so wenige Frauen im Schachsport. »Sommer … Park … Schach«, dachte der Redakteur. »Sogar im Fußball liegt doch der weibliche Anteil höher.« Die Recherche fördert gnadenlose die Gründe für den Skandal zutage: 1. Männer haben mehr Energie, 2. mehr räumliches Vorstellungsvermögen, 3. mehr Ehrgeiz. Und jetzt döst er wieder, der Herr Redakteur (siehe auch ALBUM).

Architekturkritik ist im Wiener Feuilleton immer ein imaginäres Gespräch zwischen Kritikern und Architekten. Zur Institution geworden ist dieses sterile Verhältnis im AzW, dem Architekturzentrum Wien. Der journalistische Ansatz ist besonders ärgerlich, wenn es um einen Kindergarten geht. Liesbeth Waechter-Böhm befeuert einen solchen Neubau des Architekten Hubert Hermann in Purkersdorf mit Superlativen (»wunderbar«, »zauberhaft«). Uns wäre weit lieber, die Redaktion würde mit der Besprechung noch ein paar Monate zuwarten und dann die Stimmen der Betroffenen zur Wort bringen. Das sind im Fall eines Kindergartens bitte weder die Bauherrn, die Finanziers, die Architekten, die Eltern oder das Personal: sondern allein die Kinder. Wir glauben einfach nicht, was Erwachsene da über deren Köpfe hinweg miteinander abmachen.

3. Platz: ALBUM der Tageszeitung »Der Standard«, Redaktion: Christoph Winder

Zweimal Salzburg. Zunächst ein vulgärfeministisches Pamphlet von Marlene Streeruwitz, das der Redaktion schamlos Gelegenheit gibt, mit der im Text scharf attackierten Zurschaustellung »sekundärer Geschlechtsmerkmale« einen Eyecatcher zu landen. Es geht um geschnürte Busen, also die Buhlschaft im Jedermann, und Streeruwitz zieht ihr gesamtes Hassregister gegen den Kreuz-Katholizismus des Theaterklassikers. Ein »planes Ausbeutungsverhältnis« der Männerwelt liege im zur Schau gestellten Körper der Sexarbeiterin vor; der »Idealtypus der Ideologisierung« der Frau als Heilige und Hure. Eine »unsägliche Veranstaltung« sei das da, in Salzburg. Und: »Die Wahrheit ist, dass Karrieren wahrscheinlich nur sexistisch zu machen sind«.

Die Wahrheit ist, dass Streeruwitz männlichen Kollegen wie Hofmannsthal und Lessing nicht einmal den Vornamen gönnt. Die Wahrheit ist, dass aus ihrer Auftrags-Tirade die jahrelange Beschäftigung mit unverdaulichen Texten spricht. Oder lässt sich ein Satz wie »Jede Struktur ist ein Handeln gegen eine andere Struktur« irgendwie aufklärerisch verstehen?  – Heuchlerisch Kritik. Verdunkelung. Gekreische.

Gert Kerschbaumer erinnert lexikalisch kalt an das Vernichtungsschicksal jüdischer Schauspieler der Festspielstadt. Warum und wozu wissen wieder mal nur die Zeitungsmacher mit dem »Informationsvorsprung«.

Krisenkolumnist Christoph Winder verfüttert den Puff-Papagei als saure Gurke.

Daß in Albaniens Hauptstadt Tirana seit zehn Jahren ungewöhnlich fleißig gebaut wird, nun ja … das wird wohl kaum dem »Tatendrang des Bürgermeisters« allein zu verdanken sein.

Die Kunstmark-Seite, das konzeptuelle Ärgernis im Wochenend-Feuilleton des »Der Standard«, bietet einseitige Informationen zu den kommenden Egon-Schiele-Auktionen. Olga Kronsteiner bedient allein die Interessen der Erben des kürzlich verstorbenen Sammlers Rudolf Leopold, während das Bundesdenkmalamt und unabhängige Stimmen zur Causa überhaupt nicht zu Wort kommen.

Bernd Ofner schafft es auch diese Woche nicht, eine lapsusfreie Wanderempfehlung zu liefern. Hat man je wo Kirchen errichtet, die später christianisiert wurden?

Ein wahre Blütenlese ist dar Florenz-Besuch von Jan Margot. Hier gibt es einen »in ferner Zukunft erst gehuldigten Bildhauer in spe«, hier »schwelgen die Blicke«, hier »offenbart ein Schulterblick zurück auf die Bahnhofsuhr« etwas Wichtiges, hier »tanken Tauben in der Abendsonne« und ein Dessert »hebt den Blutzucker für Einkaufseskapaden«. – Die Lachnummer der Woche!

Zwei weitere Spalten werben für Esoterisches – Geomantie und »Kraftwege« – in der Steiermark. »Provokant-kritisch-konstruktiv – das ist der Standard«, jedenfalls in der Werbung.

Wie verdienen Schachsportprofis ihr Geld? Z. B. durch Modeln (siehe auch SPEKTRUM).

Unter sechs Kurzrezensionen immerhin ein wertvoller Hinweis auf ein Kinderbuch, das sich gegen die populären Eliminationsspiele am Arbeitsplatz und in der Freizeit wendet. Heinz Janisch und Helga Bansch haben »Einzelreime« an Stelle von »Auszählreimen« verfasst.

Daß ein West-Berliner Schlapphut-Bohemien in den 1980er-Jahren »hochbarock« gedichtet hat, wollen wir uns nicht aufbinden lassen.

Ex-»Standard«-Kolumnist Daniel Glattauer bekommt in seinem Mutterblatt vier Spalten Lob für ein weiteres Buch in der Theo-Serie, die uns von Anfang an ein Missverständnis gewesen zu sein scheint. Denn in dieser Saga wird ja nicht beschreiben, wie einer vom Neugeborenen über die Jahre zu etwas geworden ist. Theo war schon bei der Geburt vollständig, war alles, was er ist. Was Glattauer da publizistisch ausbeutet oder nachzeichnet, ist, wie ihn die Welt zu etwas verbiegt, das nun »der Neffe Theo«, »der Titelheld« und »der Zeitungsstar« genannt wird.

Es folgt eine wohlwollende Besprechung des bereits genannten erotomanischen Romans vom Ex-Stern-Chefredakteur (siehe auch SPEKTRUM).

Die neue deutsche Paul-Auster-Übersetzung hatten wir schon letzte Woche profunder bei der Konkurrenz (»kein klassischer Entwicklungsroman«).

Walter Schmögers Cartoon – schwarze Schafe purzeln vom Himmel und blöken einen ölverschmierten Vogel an – finden bestenfalls Schweizer komisch.

Die Sachbuch-Verkaufsliste im ALBUM führt weiterhin ein gewisser Otto Schenk an.

Richard Schuberth ist ein Autor, der den Verlockungen der Wiener Kabarettistenhölle zu entkommen versucht. Dabei vergriff er sich bisher an viel zu großen Vorbildern: Ambrose Bierce und Karl Kraus. Mit Mary Wollstonecraft [1759-97] hat er ein angemessenes Objekt gefunden. Aber auch in diesem Text gibt es Personen ohne Vornamen, und die arme Frühfeministin muss sich »jeden Zentimeter der Emanzipation mit titantischem Trotz erkämpfen«.

© Wolfgang Koch 2010

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