vonWolfgang Koch 19.06.2011

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Jahre, Jahrzehnte habe ich nach einem Ort wie diesem gesucht! Und es dürfte kein Zufall sein, dass die Entdeckung in einer Stadt, die an sich selbst erkrankt ist – an ihrer ausufernden Selbstbezüglichkeit, wo die einzelnen meist wie Hund und Katze aufeinander sind –, ausgerechnet eine Apotheke ist.

Unter den etwa zwei Dutzend Apotheken, die ich in den 23 Bezirken, auf die sich hier das Leben verteilt, kenne, und die ich teils regelmäßig besuche, ist diese mit Abstand die seltsamste: die Allerheiligen-Apotheke am gleichnamigen Platz in der Brigittenau.

»Seltsam« ist erstens ihre Einrichtung, noch »seltsamer« sind die darin tätigen Damen. Dabei erwartet einen am Allerheiligenplatz gar keine dieser beliebten Jugendstilfassaden, und es walten in der Offizin keine weißen Engel zwischen denkmalgeschützten Schubladen, nein, alles ist durchaus modern hier, in Sichtweite des höchsten Gebäudes von Österreich.

Das beginnt damit, dass das Eckgeschäft nahe dem Milleniumstower zwei automatische Doppeltüren besitzt, aber nur durch eine davon zu betreten ist. Der Kundenverkehr wird in einer Art Einbahnstraße organisiert. Ich präsentiere  meinen Wunsch oder die Rezeptverschreibung an einem von vier Schalterplätzen, bekomme von der Apothekerin, der Apothekergehilfin oder dem Apothekergehilfenlehrling das gewünschte Medikament, dazu eine Plastikcard mit dem gespeicherten Rechnungsbetrag, trete den Weg durch Kosmetikregale an, um an der Kassa unmittelbar vor der zweiten Tür, dem Ausgang, zu bezahlen.

Soweit alles technisch-rationell: ökonomisches Kundenmanagement samt Blicksteuerung, 21. Jahrhundert, wenn da nicht ein paar Widerstände aus dem wahren Leben wären: zwei weißlackierte Blechspiralen zum Beispiel. Sie schlängeln sich von der Decke bis auf die Höhe eines Arbeitstisches herab. Auf ihren Rutschbahnen purzeln die Medikamentenpackungen vom Lager oben putzig auf die Kundenebene herunter.

Das, so wird man zugeben, hat weit mehr Stil als ein Opernsänger, der in der Maske des alten Kaisers in einer Kutsche auf die Bühne fährt. Während meine Bestellung elektronisch per Mausklick nach oben saust, muss das gesuchte Therapeutikum den guten alten mechanischen Weg antreten. Das bis dahin virtuelle Heilmittel transsubstituiert unsichtbar und fällt als Pille oder Zäpfen aus dem Himmel hernieder.

Die Apotheken-EDV wieder scheitert am Humanum. Denn bevor ich im Verkaufsraum mit meiner Plastikcard zum Zahlen an der Reihe bin, habe ich noch ein paar Stammkundengespräche in der zweiten Warteschlange mitzuhören. »Wie geht’s« – »Ja, eh, es geht!« » »Und die Kinder …?« » – »Na, meine auch ..« – Auf solche suggestiven Formeln reduziert sich heute das flüchtige Sozialleben der WienerInnen.

Die schönste Attraktion der Allerheiligen-Apotheke aber ist das rauschende Damenheer, das die Rezepte emsig bearbeitet, darunter ausgesuchte Schönheiten, so dass man sich als männlicher Kunde ungern in der falschen Warteschlange anstellt. Diese Apothekerinnen, pharmazeutisch-kaufmännischen Assisteninnen und weiblichen Lehrlinge haben hunderte Krankheiten und Wehwehchen im Kopf, drehen Pillen im Labor, tänzeln durchs Magazin, versorgen die Kundschaft gewissenhaft mit genau dem Gewünschten, plus Anwendungsmodus, plus Kugelschreiber, plus Kalenderdatum, plus einem Lächeln.

Allein, wie die pharmazeutisch-kaufmännischen Assistentinnen dabei sprechen, das scheint einer höheren Ordnung anzugehören. Unlängst hackte eine Dame nach der Entgegennahme meiner Rezeptes minutenlang auf ihre Tastatur ein und erklärte schließlich zu meiner Verblüffung: »Ich möchte, dass das die Krankenkasse zahlt!«

Nun, nichts dagegen, überhaupt nicht – aber warum in aller Welt sollte sie das an meiner Stelle wollen? Dem Apothekeneigner, ihrem Arbeitgeber, kann es doch vollkommen egal sein, wer die Arznei bezahlt, Hauptsache Geld fließt in den Laden.

Doch nein, die pharmazeutisch-kaufmännische Assistentin sagte in deutlich vernehmbaren Worten: »Ich möchte, dass das die Kasse zahlt …« – und plötzlich hatte ich nicht mehr das Gefühl, allein mit meinem Ungemach dazustehen, im Stich gelassen von Glück und Sonnenschein. Diese Dame war ein geistiges Mitglied meiner Familie geworden, an das ich mich morgen auch vertrauensvoll mit anderen Wünschen wenden konnte. Wenn ich einmal ohne Schirm ausginge, würde sie mich umarmen und sagen: »Ich möchte, dass nicht regnet.« Wenn ich meine letzte Wahlentscheidung bedauerte, würde sie garantiert sagen: »Ich möchte eine neue Regierung«, usw. usf.

Alles übertrieben? Verlogene Rhetorik! Nur ein täppischer Versuch der Pharmaindustrie, sich auf die Kundenseite zu stehlen; diese nette Dame wollte der Gesundheitsbürokratie gar nicht wirklich die Stirn bieten?

Kann sein; doch ein paar Tage später betrat ich erneut die Allerheiligen-Apotheke und streckte einer Kollegin der empathievollen Vorgängerein einen Rezeptsschein für eine Inhalationshilfe entgegen.

Auch diese Frau im weißen Kittel studierte erst eingehend das Geschriebene, fischte dann das Gerät aus irgendeiner Lade, wandte sich zu mir um und sagte mit gespieltem Ärger: »Wie oft habe ich den Ärzten schon erklärt, dass sie das ganz genau aufschreiben müssen!«

Uff! Kannte sie denn alle Ärzte in Wien? Hielt sie etwa regelmäßig Vorträge in der Ärztekammer zum Thema »Korrektes Ausfüllen eines Rezeptscheines«? Oder klapperte die junge Dame vielleicht in ihrer Freizeit alle Ordination der Stadt einzeln ab, um für die kranke Kundschaft am Allerheiligenplatz unerkannt Wohltaten zu erwirken?

Ich stand mit offenem Mund da. Was, bitte, waren denn EDV-Komfort und Blechspirale gegen diese unnachahmlichen sprachlichen Höhenflüge des Personals? Wo sonst in Wien wurde man derart leichtfüßig literarisch unterhalten? – mit halb ins Leere, halb zu sich selbst gesprochenen Sätzen, mit fiktionalen Monolog an staunende Mondkälber, die auf nichts als reine Poesie abzielten?

Versteht man jetzt vielleicht, warum ich dringend nach Gelegenheiten suche, diesen märchenhaften Ort häufiger zu betreten? Selbst ein locker dahingesagter Satz wie »Vielen Dank für ihren Einkauf!« macht mich inzwischen stutzig. Ich grüble stundenlang über den verborgenen Sinn.

Mein ganzes Trachten geht im Augenblick dahin, diese dem Burgtheater ebenbürtige Sprech-Institution unter einem neuen Vorwand zu genießen. Soll ich mich über Körperpflege informieren lassen? Meinen Blutdruck messen? Oder gibt es in der Allerheiligen-Apotheke auch Diätberatung?

© Wolfgang Koch 2011

 

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