vonWolfgang Koch 11.06.2012

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Was hat sich der Bildredakteur da wieder gedacht? Foto:W. Koch
Was hat sich der Bildredakteur da wieder gedacht? Fotos:W. Koch

Im letzten Jahr, 2011, verkündeten KunsthistorikerInnen im Museum Wien eine neue Sprachregelung: auf dass das weniger gebildete Volk nun hergehe und die neuen Worte hinfort benutze. Das berühmte Westwerk von St. Stephan, hieß es damals, das letztes steinernes Relikt des zweiten Kirchenbaus im 13. Jahrhundert an dieser Stelle, dürfe mit gleichem Recht »frühgotisch« und »spätromanisch« genannt werden. Die antiquierten Begriffe für die beiden Stilepochen würden keine zwingenden Aussagen mehr enthalten.

 

Es ist absolut typisch für das geistige Leben in Wien, dass dieser diffusen aber modern tönenden Rhetorik von anerkannten Fachleute ein Anti-Experten entgegentreten musste. Er allein ist in der Lage, aus der Jahrzehnte alten Debatte über das Westwerk und seine Bedeutung neue Funken zu schlagen. Wie überall, wo heute Kulturwissenschafter mit Powerpoint-Präsentationen an die Öffentlichkeit treten, blieb der Entdeckergeist im Wien Museum auf der Strecke.

 

Walter Seitters kleiner Schrift über die steinernen Reste des zweiten Kirchenbaus zu St. Stephan und seine europäischen Vergleichfälle wäre ein Ehrenplatz auf jedem Verkaufsregal für Wienbücher zu wünschen. Dort liegen heute vorwiegend drittklassige Reiseführer auf, für die ein Autor beim anderen abschreibt.

 

Das Erstaunlichste an der kleinen Schrift ist, dass auch Seitter, der gelernte Philosoph und erfolgreiche Vermittler poststrukturalistischer Denker im deutschsprachigen Raum, in vielen Details des romanischen Sakralbaus irrt oder ratlos bleibt. Dennoch scheint er im Ganzen mit seiner Hypothese eines Zeitsprungs im Gefüge der Jahrhunderte richtig zu liegen – und das ist schon eine Leistung für sich.

 

Dass etwa die Mauerkreise am wahrzeichenhaften Westbau von St. Stephan »Maßangaben für Brote« waren, das wurde bereits mehrfach widerlegt und wird heute nicht einmal mehr von Fremdenführern verbreitet. Den populären Streit um die angeblich auf zwei Kapitellen sichtbaren Nachbildungen von Geschlechtsteile vermag auch Seitter nicht zu klären; hier gelangt er über die zitierte Autorität des Karlsruher Bauhistorikers Johann Josef Böker nicht hinaus. Mit der Symbolik altjüdischer Tempelfassaden mag sich heute in unseren Breiten offenbar niemand mehr beschäftigen.

 

Seitter ist dezidierter Philosoph, das heißt Selbstdenker, Einzelgänger. Das bannt schon mal die vielen Gefahren der Fach- und Begriffsprache der Baukunst in seinen Texten. Wo Kunsthistoriker knapp »Doppeldienste« notieren würden, spricht dieser Autor ungleich klarer von »eng aneinander gepressten Halbsäulen«, von »Bündelpfeilern« oder »gleichartigen Doppelstäben«. Seitters mangelnde Lust am Jargon hat etwas absolut Befreiendes; die beschrieben Objekte treten viel Plastischer vor die Augen des Laien als in der kunstakademischen Literatur.

 

Und Seitter streift in seiner Untersuchung der romanischen Bauteile der Kirche viele offene Fragen. So formuliert er die gewagte Ansicht, dass die rätselhafte Virgilkapelle nicht eigentlich eine Krypta der 1972 wiederentdeckten Maria-Magdalenen-Kapelle am Karfreithof war, unter der und unter dem Neuen Karner sie doch unübersehbar lag. Seitter vertritt die These, die Virgilkapelle sei eine »verrückte Außenkrypta von St. Stephan« selbst gewesen.

 

Diese Idee vermag zur Klärung der rätselhafte Funktion und Ausstattung der Kapelle aber nichts beizutragen. Dass die rotbraunen Templerkreuze an den Wänden aus der Erbauungszeit stammen, ist damit noch weniger erwiesen.

Das Riesentor zeigt die sechs Weltalter und den Fürsten der Welt

Wie gesagt, es sind nicht die Detailfragen, die dieses Buch spannend machen. Hinsichtlich der Bekleidung, der Ausstattung, usw. stochert der Autor nicht weniger im Nebel als andere vor ihm. Immerhin entwickelt er ja für die Bezeichnung »Riesentor« eine höchst eigenwillige Interpretation, fernab der beliebten etymologischen Herleitungen.

 

Den Nagel auf den Kopf trifft Seitter allerdings erst mit der Hauptthese seines Buches:

 

In der Baukonstruktion, der Portalgestaltung, vor allem aber im Figurenprogramm, lautet sein Ergebnis, habe die »reaktionäre Romanik« eine Aufgeschlossenheit für das Weltliche, ja für das Heidnische, Individuelle und Experimentelle gezeigt. In den Überresten des Westwerks sei ein heute noch sichtbarer Kulturkampf im Gang gewesen, ein Zeitsprung im Zivilisationsgefüge, ein epochaler Bruch, in seiner Wucht durchaus vergleichbar dem viel späteren Widerstreit von Barock und Klassizismus.

 

© Wolfgang Koch 2012

 

Walter Seitter: Reaktionäre Romanik. Stilwandel und Geopolitik, 139 Seiten, ISBN 978 3 85449 361 7, Wien: Sonderzahl 2012, 18,- EUR

 

TEILE DER SERIE [a-f]:

St. Stephan und das höhere Verlangen des Augenblicks

Was zum Teufel ist »Reaktionäre Romanik«?

Der unvermeidliche Ausflug der Wiener nach Schöngrabern

Makro-Historie am Beispiel der Wiener Stephanskirche

Walter Seitters weltgeschichtliche Wiederaneignung des Westens

Der neuerliche Zeitsprung durch den islamischen Terrorismus

 

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