Die Beziehungen zwischen Augsburg und Wien sind älter als jeder Hundertjährige Kalender. Sie dürften bis zur Schlacht auf dem Lechfeld im Jahr 955 zurückreichen, nach deren Niederlage die feindlichen ungarischen Reiter Gebiete des heutigen Österreich räumen mussten. Seither haben immer wieder kluge Köpfe aus dem Südwesten Bayerns eine Liebe zur Stadt an der Donau entwickelt, aber selten einer so hartnäckig wie der Künstler und Kunstvermittler Alexander Nickl.
Nach einer langen Serie von Interventionen, von sogenannten Mentagrammen und Neoprojektionen wandte sich der öffentlichkeitsscheue Küsntler in den letzten Jahren immer stärker der Miniaturisierung von Innenraumprojektionen zu. Das war nach seinen bisherigen bildnerischen Schritten nur konsequent.
Die drei neuen, im Land Salzburg gefertigten Apparate haben die Größe von Sperrholzkästen. Ihr Äußeres ist unscheinbar. Ihr Inneres aber dient dazu, tausende Handzeichungen früherer Werkphasen als »geistige Bewegungsprozesse« zu visualisieren. Nickl träumt hier den wahrlich populären Traum der Gegenwart, einen unbekannten Code des menschlichen Bewusstseins im Gehirn zu entschlüsseln – doch er träumt diesen Traum intensiver, poetischer als die Hirnforscher, deutlich von Gerätschaften im Wiener Pratermuseum inspiriert.
Blickt man durch das gläserne Einfachokular in das Innere der Sperrholzkästen, zeigen sich tanzende Figuren auf rotierenden Scheiben vor der Projektionsschleife von zirka 500 Mentagrammen. Jedes Werkel arbeitet in einem 240 Volt Netz- und Akkubetrieb, um das Schaufeld des Betrachters nach innen zu öffnen. Die bewegte Szenerie wechselt durchschnittlich alle drei bis vier Sekunden.
Was tut der Mann da? Alexander Nickl wünscht, seine Hirndecke schonungslos vor dem Betrachter aufzuklappen: »Reine Visualisierung ist mir zu wenig. Bild und Ton gehören zusammen, weil ja ein Klang im Bild selbst schon enthalten ist«.
Von Guckkästen fasziniert, sperrt dieser Künstler das Licht heute in seine Geräte ein, um Zeichungen und Bilder eines ganzen Jahrzehnts immer neu zu arrangieren und abzuspielen. Was für ein erstaunlicher künstlerischer Prozess: von den Monumentalarbeiten an den Fassaden von Barockkirchen, Schlössern und Museen, über Projektionen in Öltanks, Gaslagern und in einem Atomkraftwerk hin zu technisch raffinierten Häkeleien mit zartem Licht in einer Holzbox.
War das nicht einmal die dunkle Abkunft des Kinos vom Jahrmarkt: dieses anonyme, bevölkerte, wimmelnde Schwarz im Gestank der Hinterhöfe, die Steigerung der Sinne im unheimlichen Schein einer Sonnenfinsternis? War das nicht einst die berühmte Atmosphäre des kollektiven Filmerlebens, bevor sich das Kino in Unterhaltungsmaschinen verwandelte und die grausame Abfertigungsatmosphäre an einem Ort der Ästhetik einzog?
Im leuchtenden Staubwirbel des Projektionsapparates, da erkannte der Kinogeher früher die anderen Gestalten im Zuschauerraum. Wer in Alexander Nickels kleine Lichtforen blickt, wer sein leuchtendes Minimundus betrachtet, wird gelegentlich vielleicht ein paar Kühe entdecken. Auf diese Tiere hat der Künstler 2008 in einem Stall im Allgäu erbarmungslos seinen Scheinwerfer gerichtet und sie damit eingesaugt. Jetzt grasen deutsche Kühe auf Zentimetergröße geschrumpft friedlich in einem Sperrholzkasten.
© Wolfgang Koch 2013
Abbildungen: Der Alexander-Mentagraph I / Labor 47