Zu den gelungensten Einrichtungen der österreichischen Tageszeitung ›Der Standard‹ gehört das lebendige Leser-Forum dieses Blattes. Hier haben in den letzten Tagen überwiegend jüngere User hunderte heitere Fahrgast-Anekdoten zusammengetragen und kommentiert.
Im Folgenden eine Auswahl sprachlich bearbeiteter Geschichten, die alle möglichen Zwischenfälle und den wohl einzigartigen Wiener Volkssport des Deppertmeldens zum Gegenstand haben.
Die Linien der Straßenbahn (in Wien: der Bim, veraltet: Tram oder Tramway) werden traditionell mit Buchstaben oder Zahlen bezeichnet und sind allesamt männlich: also »der 33er«, »der J«, etc. Das Gleiche gilt für Buslinien: »der 14A«, etc. U- und Schnellbahnen hingegen sind grundsätzlich weiblich: also »die U3«, »die S 45«, etc.
Der Wahrheitsgehalt der hier dokumentierten Erlebnisse lässt sich genauso wenig beweisen, wie umgekehrt niemand in Abrede stellen wird, dass der Öffentliche Personennahverkehr in Wien eine nie versiegende Quelle von Situationskomik ist.
DIE KINDER
Schön sprechen. Im 46er in der Lerchenfelderstraße spielt eine Fünfjährige am Fenster. »Samanta«, befiehlt ihre Mutter, »sitz di hi!« – Tochter: »Hääh?« – Mutter, erbost: »Des hasst ned ›Hääh?‹, des hasst ›Wos?‹«.
Wiener Charme. Der 10A in der abendlichen Hauptverkehrszeit, der Passagierraum zum Bersten voll. In der Ottakringerstraße wartet auch noch eine Mutter mit Kinderwagen an der Haltestelle. Der Busfahrer murmelt vor sich hin: »Kennan de Wappla hinten der ned Plotz mochn?« – Eine ältere Dame, auf das Mikrophon deutend: »Des miassens do rein sogen!« – Er: »Stimmt! … Könnts es Wappla ned der Frau Plotz mochn?« – Tatsächlich steigen vier Jugendliche aus, bugsieren die Frau mit dem Kinderwagen hinein und bleiben dann gezwungenermaßen an der Haltestelle zurück. – Der Fahrer beim Wegfahren: »Kennt i öfta mochn«.
§ 107 Abs. 1 StGB. In einem Linienbus entspinnt sich ein Streit über den Sitzplatz eines Kleinkinds. »Ruhe! Sie haben mir nicht zu widersprechen!!!«, ruft der eine Herr. – »Sie mir auch nicht«, erwidert der Begleiter des Kindes. – »Schluss jetzt! Sonst gebe ich Ihnen eine Ohrfeige!«, droht der Empörte. – Der Bedrohte, seelenruhig und offenbar juristisch versiert: »Ich bin von Unruhe und Furcht erfüllt«.
Fürs Fotoalbum. Am Karlsplatz wirft sich ein Junge im Schulkindalter heulend zu Boden, weil er offenbar etwas Gewünschtes nicht bekommen hat. Anstatt mit ihm zu schimpfen, zücken die Eltern eine Kamera, richten die Linse auf ihn und knipsen lachend eine Aufnahme für die Ewigkeit.
Der Lernschritt. In der U4 verbietet eine Mutter ihrem zirka fünfjährigen Sohn, sein Nase an die Fensterscheibe zu drücken, worauf der sich mit den Worten »Blöder Mama, blöder Mama« abreagiert. – Sie: »Wie oft soll ich dir das noch sagen? Das heißt nicht ›blöder Mama‹, das heißt ›blöde Mama‹!«
Der Fremdenführer. Ein Vorschulkind beweist im J-Wagen am Ring seine exzellenten Wienkenntnisse. Das Naturhistorische Museum passierend: »Da drinnen wohnen die Steinzeitmenschen«, und einen Augenblick später am historistischen Parlamentsgebäude von Theophil Hansen: »…und da die Römer«.
Der Gattungsname. In der U3 mustert ein Kleinkind argwöhnisch den gegenübersitzenden Mann, zeigt schließlich mit dem Finger auf ihn und verkündet lautstark: »Papa!« – »Nicht dass ich wüsste«, erklärt der Mann bedauernd, und grinst die dazugehörige Mutter an.
English spoken? In der S-Bahn berichtet ein Vierjähriger seiner SMS tippenden Mama in breitem Wiener Dialekt, was er heute im Kindergarten mit einem neuen Kameraden namens Jason alles erlebt hat. Irgendwann blickt sie vom Mobiltelefon hoch, runzelt die Stirn und sagt: »Hearst, wos redst du eigentlich fia an Bledsinn!? A Tschesn is a oids Auto – wos hot des mit deim Kindagoatn ztuan?«
Junk-Food. Eine vierköpfige Familie steigt zur Mittagszeit in den 13A, nimmt Platz in der hintersten Reihe, jeder der Vier einen in Alufolie gepackten Kebab in der Hand. Während sie ihr Essen auszupacken beginnen, unterhalten sich die Kinder in angeregtem Tonfall. Die Mutter fährt streng dazwischen: »Jetzt seid’s aber amal ruhig, mia tuan jetzt Mittagessen!«
Sommerhitze. Ein Bauarbeiter mit starker Körperbehaarung steigt im Unterhemd in die U-Bahn. Ungläubig wird er von einem Kleinkind beobachtet, bis es sich nach Minuten einen Reim darauf machen kann und sagt: »Papa… ich glaub’ da sitzt ein Affe in der U-Bahn!«
© Wolfgang Koch 2014