In den Jahren des Millenniums erfuhr die Geschlechterfrage eine seit Sigmund Freud und der Geburt der Psychoanalyse nicht mehr dagewesene Aufmerksamkeit. Das mag teils der explosionsartigen Ausbreitung von Pornos in der Digitalen Revolution geschuldet sein, sicher hängt es aber mit dem Widerstand gegen die globalisierten freiheitlichen Werte des Westens zusammen.
Seit vielen Jahren wächst ja die Homophobie in rückständigen Weltregionen dramatisch an. In einer Vielzahl von afrikanischen Staaten steht die homosexuelle Orientierung unter akuter Strafdrohung, und nur 15 Staaten weltweit erkennen sie als Verfolgungsgrund im Asylverfahren an.
Der Homosexuelle wird heute im katholischen Südamerika vielfach seiner Würde beraubt; in buddhistischen Klöstern ist er ein noch viel größeres Tabu als die Depressionserkrankungen unter den Mönchen. Zugleich wächst das innere Afrika in den Wohlstandsgesellschaften.
Warum fürchten sich unsere gut ausgebildeten und perfekt vernetzten Jugendlichen heute vor nichts mehr als vor Ausgrenzung aufgrund von Homosexualität? – Eine möglich Antwort könnte sein: Weil das allgemeine mediale und pädagogische Toleranz-Geschwurbel in Wahrheit sämtliche Formen von sozialer und ethnischer Abweichung tabuisiert.
Tjark Kunstreich formuliert die entsprechende These, indem er einen Blick in die Vergangenheit wirft:
Schwuler Stil ist seit dem 19. Jahrhundert geschmacksbildend in der Globalkultur. Pop, Mode und Unterhaltung bedienen sich subkultureller Erkennungszeichen sowie der klassischen Homomythen in den Figuren von Bauarbeiter, Cowboy und Indianer, Ledermann, Matrose, Polizist und Soldat.
Die persönlich Betroffenen Schwulen und Lesben mussten dennoch lange ihre ganze Schlauheit aufbieten, um in der Mehrheitsgesellschaft nicht unterzugehen. Kunstreich unterscheidet sieben verschiedene Lebenshaltungen, mit der eigenen Homosexualität zu verfahren, nach bekannten literarischen Protagonisten:
Der britische Schriftsteller Oskar Wilde distanzierte sich vom Opferstatus und hoffte auf Abschaffung der staatlichen Unterdrückung durch gesellschaftliche Anerkennung.
Der italienische Dichter und Mussolini-Rivale Gabriele D’Annunzio sublimierte die Gleichgeschlechtlichkeit und brachte sie als Perversion auf einen künstlerischen Begriff.
Der Franzose André Gide befürwortete Pädophile als Dekadenz des bürgerlichen Zeitalters.
Sein Landmann und Kollege Marcel Proust kultivierte Homosexualität als Flair des Besonderen, vorbehalten einer sorgenfreien Bohemé.
Der deutsche Schriftsteller Klaus Mann verteidigte sie mit den Prinzipien der Aufklärung; er suchte, aber er verfehlte dabei den Anschluss an eine Gemeinschaft ohne Mimikry.
Der italienische Regisseur und Schriftsteller Pier Paolo Pasolini glorifizierte sein in Heimlichkeit erlebtes Begehren.
Das Enfant terrible der französischen Nachkriegsliteratur, Jean Genet, verriet die Gemeinschaft, verweigerte Individualität, liebte das Reservat und ließ Nazis, Mörder, Schwule, Spitzel, Transvestiten, Diebe, Transvestiten, Arbeiter und Matrosen in die Atmosphäre von falscher Befreiung nach 1945 platzen. In seinen Texten schmettert der Zuhälter nach dem Orgasmus die Marseillaise.
Es gäbe weitere große Namen aufzuzählen, die nach einem individuellen Ausweg aus der gesellschaftlichen Stigmisierung suchten. Hans Henny Jahn ist ja nicht einfach ein umgekehrter D’Annunzio; Mishima ist kein japanischer Proust und Hubert Fichte keine deutsche Variation von Genet.
Aber auch bei Kunstreichs Big Seven wird bereits klar, dass der Bruch im Selbstverständnis von Homosexuellen nicht hätte größer ausfallen konnte, als zwischen diesen inzwischen klassisch gewordenen Künstlernaturen auf der einen Seite und den Aktivisten der Homosexuellenpolitik im Nachsommer der Studentenrevolte auf der anderen.
Konkret setzt Kunstreich den Beginn der kollektiven homosexuellen Emanzipation mit den Krawallen von 1969 in der New Yorker Christopher Street an. Auf brutalen Polizeirazzien in Schwulenkneipen folgten damals nachhaltige Protestmärsche – nachhaltig, weil sich die Protestierenden unter dem Banner der bürgerlichen Gleichheit auf der Straße zusammenfanden. Was damals der homophoben Mehrheit selbstbewusst entgegentrat und diese mit ihren eigenen Vorurteilen konfrontierte, ist nach diesem Autor erst in den 1980er-Jahren an Aids zerbrochen.
Bis zum ersten Höhenflug der Homosexuellenpolitik von 1969-87 haben praktisch alle Ideologien, vom Sozialismus bis zum Faschismus, den Homosexuellen jenes Grundrecht verweigert, dass weder Juden noch Schwarzen je abgesprochen wurde: das gleiche Recht auf Liebe und Zärtlichkeit.
Ja, aber konfrontierte die Schwulenbewegung die Öffentlichkeit nicht meistens mit ziellosem Tuntengeschrei? Waren die Regenbogenparaden je mehr als alarmistische Partys, fotogene Karnevals für Schaulustige und ein Einweihungsritual in unanständige Ausdrücke?
Nein, meint Kunstreich, das waren einmal ernstzunehmende politische Ereignisse. Man flüsterte einander nicht mehr nachts ins Ohr. Man brüllte es durch Lautsprecher auf die Gasse.
Aids hat aus der scharfen Gesellschaftskritik ein verträumtes Geheul gemacht. Nach Kunstreich ist die sogenannte Queer-Koalition 1987 aus Act Up hervorgegangen, als es in den USA immer schwieriger wurde, Gräber für verstorbene Aids-Opfer finden. Damals hätten sich alle sexuellen Minderheiten zusammengeschlossen, um die gesellschaftliche Ignoranz gegenüber der Krankheit zu durchbrechen.
Das neue Patchwork der Abweichungen (LGBTQ, LGBTI) habe sich dann schrittweise des Körpers zugunsten des Diskurses entledigt. Aus der Selbstaufwertung des Anderen in alle seinen sexuellen Spielformen sei eine Abwertung männlicher und weiblicher Sexualität erwachsen, aus der Kritik der Heteronorm sei das Ideal einer Transgeschlechtlichkeit ohne biologisches Geschlecht geworden. »Genau das nutze Judith Butler, indem sie vom körperlichen Begehren absah und das biologische Geschlecht zu einer diskusiven Konstruktion erklärte«.
Das Ergebnis dieser »Selbst-Entleibung« haben wir heute täglich auf Wiens Plakatwänden, in der TV-Werbung, als Eissorte oder als Weißwurst, vor uns, wenn der Musiker Tom Neuwirth verlangt, dass er in der öffentlichen Rolle einer Transe mit dem weiblichen Geschlecht angesprochen wird. Soviel »Respekt« sei man seiner Maske Conchita Wurst eben schuldig, erklärt der Künstler; und bis in die konservativen Kreise der ÖVP hinein geschieht das nach anfänglichem Zögern tatsächlich auch.
Respekt vor einer Kunstfigur? Hoheitsbezeugungen vor Comics? Unterwerfung vor Illusionen?
Das Queer-Denken ist unübersehbar in der Mitte der Gesellschaft angekommen, aber das jeweilige Sosein wird dabei nur anerkannt, solange es eben um sprachliche Verhältnisse und Zeichen geht. Über die Qualität von materiellen Lebenszusammenhängen sagt das Bemühen um politische Korrektheit überhaupt nichts aus.
Gender war nie ein Mittel, der Ungleichheit unter Menschen zu begegnen. Der Gender Gap verwies darauf, dass es jenseits von Frauen und Männern auch Personen gibt, die sich keinem der beiden Geschlechter eindeutig zuordnen können oder wollen. Mit dem Begriff wurde der Nachweis der Nicht-Natürlichkeit des Geschlechts erbracht. Das feministische Anliegen dabei: die darin involvierten Mechanismen der Hierarchisierung zu verstehen.
Butler kritisiert seit 1990 die einseitige Konzentration auf Schwulenrechte: diese würde andere Minderheiten benachteiligen und unsichtbar machen. Für Kunstreich besitzt Butlers theoretischer Ansatz weder einen Begriff von Schulenhass, noch auch einen von Antisemitismus. Allein schon die Sprache der Gender-Theorie setze bewusst auf Distinktion.
Die Queer-Community rekurriert quasi direkt, ohne den Umweg über die Geschlechterpaarung, auf die Abstammung als Urgrund der Gesellschaft. Sie behauptet in neuen Modellen des Zusammenlebens mit den naturhaften Erbe der Menschheit auf dieselbe familiäre Weise umgehen zu können wie die Heterosexuellen.
»Die Utopie ist heute Standard«, hat Franz Böckelmann in der neuen Ausgabe der Zeitschrift Tumult festgehalten. »Die Postulate der Toleranz und Weltoffenheit werden verabsolutiert, die Öffnung aller Grenzen direkt und indirekt als Königsweg empfohlen«.
Die Utopie der toleranten Gesellschaft sagt, dass es nur mit einer unvoreingenommenen Haltung gegenüber dem Anderen möglich ist, sich wirklich lebendig zu fühlen. Gender wäre demnach der endgültige Triumph eines Positivismus in gutmenschlicher Einfalt. Alles Übel scheint verhinderbar, wenn es nur genüge viele Menschen anpacken.
Statt auch die Schattenseiten der Sexualität zu benennen, komme die neue Ideologie nun als dekonstruktive Moral daher, die sich scheinbar jeder Wertung enthält. In Diversity-Verständnis ist einfach alles positiv im Sinn von nicht bewertbar. »Aberwertungen, Demütigungen und Diskriminierungen gibt es zwar, aber sie sind einem Diskurs geschuldet, der einfach durch einen anderen ersetzt wird«.
Das Gender-Konzept nivelliert die Unterschiede; durch die fehlende Anerkennung von Gruppendifferenzen wird ein konstruktiver Umgang damit unmöglich gemacht. Anstelle von Individuen, die Erfahrungen sammeln, anstelle von Gemeinschaften, die aus sexuellen Begehren entstehen, wird das Begehren selbst zur Identität. Der Abschied von der Hetero-Homo-Achse, so Kunstreich, leugnet gesellschaftliche Machtunterschiede, Verfolgung kann nicht mehr erkannt und nicht mehr kritisiert werden.
Kunstreich unterscheidet zwei Blöcke an devianten Sexualitäten: Erstens die Homo-, Bi-, Hetero- und Asexuellen, die sich über die Objektwahl definieren und zweitens Transsexuelle, Transidenten und Intersexen, die auf Geschlechteridentität bestehen. Diese beiden Lager können sich in der Queer-Nation nicht einigen, und die Queer-Theorie sorgt dafür, dass die zweite Gruppe als die eigentlich Unterdrückten wahrgenommen werden.
Da die Gruppe der Transsexuellen extrem klein an der Zahl ist, marginalisiert sich die Homosexuellenpolitik auf diese Weise selbst. »Die Subsumierung der Homosexualität unter das Genderdiktat hat der homosexuellen Emanzipation einen Bärendienst erwiesen, ebenso wie das Gendermainstreaming der Frauenemanzipation«.
Das Tragische am Queer-Geschehen sieht Kunstreich darin, dass die schwindelerregende Weltverbesserung des Genderns und der Homo-Ehe um eine bürgerliche Normalität streitet, die so gar nicht mehr existiert. Ein Drittel der Kinder wächst heute bereits mit Alleinerziehern und in Patchwork-Familien auf. Jede zweite Hetero-Ehe zerbricht; die durchschnittliche Verpartnerung in Deutschland dauert gerade mal 14 Jahre.
© Wolfgang Koch 2015
Tjark Kunstreich: Dialektik der Abweichung. Über das Unbehagen in der homosexuellen Emanzipation, 133 Seiten, konkret Texte 67, Hamburg 2015, ISBN 978-3-930786-78-7, EUR 15,-
Foto: T. Kunstreich