»Mir geht es um ein irrationales, kaum greifbares Gefühl von Freiheit«, sagt Christo über sein Landschaftsprojekt der drapierten Spazierwege am Wasser des norditalienischen Lago d’Iseo.
Die Stege, die im Wasser schaukeln und deren Luftpolster zugleich unter dem Tritt nachgeben, sie verbinden den Ort Sulzano auf dem Festland mit der Insel Monte Isola und von dort mit dem kleineren Eiland San Paolo. Das Zentrum liegt also nicht im beschaulichen 2000-Einwohner-Dorf Sulzano; dort, in der Peripherie, befinden sich nur der Bahnhof, 4.000 Parkplätze, und es stehen zahlreiche Shuttle-Busse zur Verfügung.
Im Zentrum der Piers und des Budenzaubers um sie herum liegen die Häuser von Peschiera Maraglio – und dieses Fischernest hat trotz einem Luxusrestaurant und einer Kirche kulturell nichts weiter zu bieten als die Flechtarbeiten einer Seilerfamilie und zwanzig im Wasser stehende Echten Sumpfzypressen (Taxodium distichum), an denen sich das Kunstpublikum achtlos vorbeischiebt, um möglichst schnell auf das Floss um das kleinere Eiland San Paolo zu gelangen.
Der ästhetische Coup der kunstsinnigen Wasserwanderung: die beiden Hauptstege laufen in der Mittelachse auf eine mauergeschützte Seevilla zu, die sich seit Generationen im Besitz der Waffenherstellerdynastie Beretta befindet.
Die schwimmende Einfassung dieses Privatidylls lädt die Massen zum Rasten ein und wird allgemein als Höhepunkt des Kunstwerks empfunden. Hier, um das Wasseridyll der Superreichen herum, lassen sich Tag und Nacht Besucher am Boden nieder, viele streifen die Schuhe ab, Dutzende stecken ihre Füße zur Kühlung in die mit Metallnetzen gesicherten Spalten, die sich zwischen den Schwimmwürfeln, den Mauern und den Anlegedocks am Bootshauses der Villa ergeben.
An diesem nutzlos verzauberten Ort wird in Details eine ästhetische Draperie sichtbar, die die Gesamtwirkung von Floating Piers in ein merkwürdiges Licht setzt. So hat man den Zugang zum Heim der Künstsammlerin Umberta Gnutti Beretta nicht nur mit »proprietà privata«-Schildern versehen, sondern die Mauer zum Anwesen gleich noch vorsorglich mit Stacheldraht abgesichert, mit Überwachungskameras und Bewegungsmeldern ausgestattet.
Um die Sicherheitsmaßnahmen am Garten Eden nicht allzu monstös aussehen zu lassen, verfiel Christo auf die Idee, den Stacheldraht nach Möglichkeit unter Efeu zu verbergen, und wo der Pflanzenbewuchs dafür nichts ausreicht, hat man noch einmal mit Efeublättern aus Kunststoff nachgeholfen.
Das wirkt nicht nur absurd und lächerlich, wie das Bühnenbild einer Commedia dell‚arte in einer Tropfsteinhöhle oder wie Macolm X in einer Kindertagesheimstätte, – der falsche Efeu ist metaphorisch tatsächlich das Feigenblatt eines idyllischen Kapitalismus.
Anfang der 1970er-Jahre hat der tschechische Surrealist Ivo Medek der Welt eine SW-Collage geschenkt, auf der Menschen vom Strand über einen Steg hinaus in ein riesiges Schneckengehäuse spazieren. Diese Fantasie wirkt heute geradezu wie ein Blaupause für Floating Piers.
Christo markiert mit der auf die Beretta-Villa zulaufenden Mittelachse der Piers nämlich eine imaginäre Linie, die einst der Architekt dies Villenbaus von der Anhöhe des Torre Martinengo herunter auf die Isola di San Paolo gezogen hat. In diese Traditionslinie der Repräsentationskultur eingeschrieben verbindet Christos Konstruktionsidee nicht nur Erde und Wasser, Berg und Insel miteinander, sondern eben auch die Turmzinnen des Kastells, Wehrsymbol der Feudalgesellschaft, mit dem im See ruhenden Gartenglück der bürgerlichen Fabrikantenfamilie.
Es geht, wenn man bei Floating Piers näher hinschaut, also unmittelbar um den Ursprung und die Wunschkräfte der kapitalistischen Gesellschaft, und wenn Christo scheinbar naiv vor sich hinsagt: »Ich liebe die künstlerische Freiheit und all die Möglichkeiten der kapitalistischen Gesellschaft«, so dürfen wir in ihm fortan durchaus mehr als einen Generationskollegen von Andy Warhol sehen.
In den 1960er-Jahren konnten sich Künstler sarkastisch oder zynisch zum Kapitalismus bekennen. In ihrer Affirmation des Bestehenden lag zumindest immer auch die Möglichkeit einer kritischen Haltung. Wenn sich Christo nach drei Jahrzehnten schwitzender und grübelnder Institutionenkritik in der Kunstszene, nach drei Jahrzehnten Situationismus-Rezeption und Postcolonial Studies, derart offen zu den ökonomischen Mechanismen der Massengesellschaft bekennt, dass lässt sich das nicht mehr als paradoxe Provokation abtun.
Bei Christo fügt sich alles zu einem unverschämten Ganzen. Sein neuer Coup der Ästhetik schafft durch ganze Ketten von Sach- und Sicherheitszwängen einen Menschenpark, in dem der Künstler, wie nur je ein autokratischer Herrscher, zwischen zwei Erlebnisqualitäten unterscheidet. An Zäunen entlang des Ufers hat Christo zwei Schrifttafeln mit unmissverständlichen Botschaften aufhängen lassen: »Prenotati/ Priority« in der Farbe der Orange, und »Non Prenotati/ Non Priority« in Tiefseeblau. Auf gut Deutsch: »Wer zahlt, hat uneingeschränkt Vorrang!«, – die anderen Zaungäste, bitte, kollabieren derweil bei 32° Celsius in der Hitze oder laben sich an einem von Dutzenden Verkaufsständen für Würstchen, Gelati und Getränke.
Wir haben hier das finanzstarke, zahlende Publikum der Hotelgäste, der Kunstsammler und Touren-Besucher auf der einen Seite; und die die gelenkte und von hunderten Normen drangsalierte »demokratische Masse« der Billiggäste auf der anderen Seite. Die Masse wird schon vor dem Rathaus in Sulzano blockweise abgefertigt.
Die laserbasierte Systemtechnik, mit der der Besucherstrom gemessen wird, stammt aus dem niederrheinischen Wesel. Mit ihrer Hilfe überwacht man das Maximum von etwa 11.000 Besuchern auf den Stegen. Meldet das System zuviel demokratischen Pöbel in einem der wenigen Schattenbereiche der Piers, greifen die per Funk informierten Ordner sofort ein. Immer wieder müssen bereits in der Ferne Zug- und Fährverbindungen unterbrochen und verzögert werden, um den Ansturm unter Kontrolle zu halten.
So ein Besuch des Kunstwerks hatte in Paris und Berlin noch ein viel menschlicheres Gesicht. Wohl gab es auch auf dem verhüllten Pont Neuf eine internationale Helfertruppe, gab es Wachleute, Profikletterer und Techniker, doch der beste Blick auf die Verhüllung bot sich nicht vom Kunstwerk selbst, sondern vom benachbarten Pont des Arts. Zweitens picknickten 1985 in den Abendstunden vollkommen friedlich und unbehelligt hunderte Pariser Familien in den Buchten des Brückengeländers.
Wrapped Reichstag glich einem schönen Popkonzert ohne Krach. Tag und Nacht lagerten Menschen in Gruppen auf der Wiese vor dem Moment der wechselvollen deutschen Demokratiegeschichte, und es wäre keinem der Macher im Organisationsstab der harmlosen Ästhetisierungsaktion auch nur eingefallen, einen Kiffer oder einen Obdachlosen abführen zu lassen.
Das ist im Italien von heute gründlich anders! Die Lombarden unterwerfen das Überwasserszenarium geradezu lustvoll einer behördlichen Regulierungswut. Dem Gigantismus des Künstlers und seiner TV-bestimmten Vermittlung kann offenbar nur durch einen Hang zu Dauerbelehrungen, zu Absperrungen, Verboten und Wegweisungen entsprochen werden.
Instruktionen, Regeln, Regularien, wohin man schaut. Füße ins Wasser stecken, verboten! Mütze nässen, verboten! Am Rand der Piers gehen, verboten! Baden, das sowieso! Am 1,5 Kilometer langen Uferband haben die Konstrukteure gerade mal drei Meter Zugang zum Wasser freigelassen, damit sich Besucher die Füße abkühlen können. Einen Fußbreit vom Ufer entfernt hängt bereits ein Sperrnetz.
Die Floating Piers sind unterm Strich ein industriell designtes Unternehmen, wie alle Arbeiten Christos. Die Organisationswut wuchert mindestens bis nach Mailand. Auf dem Sonderfahrschein der Tenord, den ich dort um 13 Euro für die Regionalzüge erwerbe, hat man den poetischen Zusatz »A one in a lifetime trip« aufgedruckt.
Einmaligkeit. Unwiederholbarkeit – das sind die besonderen Markenzeichen von Christos Kunstaktionen, sein praktischer Beitrag zum Performance-Begriff. Auch die Kindheit erlebe man schließlich nur einmal, sagt der Künstler.
Eine »interaktives Kunstwerk« sind die Floating Piers durch den Publikumsandrang aber noch lange nicht, eher das Gegenteil. Es ist die technologische Gewalt in der Struktur des neoliberalen Menschenbildes, die hier waltet; es sind verfeinerte arbeitsorgansiatorische Methoden der Massenlenkung, also letztlich: eine Verschmelzung von gesellschaftlichem Kunstmythos und produktiver Organsiation, die die allgegenwärtige Lebensangst und Identitätsvernichtung drapiert mit den dekorativen Falten von Polyethylengewebe.
Gewiss, täglich kommen Zehntausende. Aber Quote bedeutet für Kunst im Grunde noch gar nichts. Ein fataler und komischer Irrtum, wenn das von der Umsatzlogik bedrängte Gemüt seine Sehnsucht nach Einmaligkeit an den positiven Qualitäten von Gleichzeitigkeit labt.
Ist es denn wirklich die Aufgabe der Kunst, den sozialen Riss in der Gesellschaft zu vertiefen? Ist es eine Aufgabe der Kunst das zentrale gesellschaftliche Koordinatensystem von Aus- und Eingrenzung als 16tägiges Ereignis zu feiern? Soll es eine Aufgabe der Kunst sein, die Kritikresistenz der oberen Klasse noch weiter zu stärken? Ist es wirklich der Job des Künstlers, die symbolische Ordnung des Geldes ohne jede weitere Transformation auf schwankenden Stegen in leuchtendes Orange zu gießen?
Ich gebe zu, dass man, wie immer im Leben, auch am Iseo-See der harten Gegenwart ein Schnippchen schlagen kann; dass man verbotenerweise, aber kosten- und gefahrlos in den Wäldern des Monte Isola nächtigen kann und dann zum ersten Sonnenstrahl des neuen Tages mit einem dutzend Menschen im schwarzen Odner-Habit allein auf dem blutroten Stegen mit den konfektionierten Stoffbahnen wandelt.
Der eigentliche kulturelle Gewinn von Floating Piers liegt, wie immer bei Christo, einerseits in der enormen technischen Erweiterung der künstlerischen Möglichkeiten eines einzelnen Individuums (ich reihe Christo in der entsprechenden Heldengalerie zwischen Charles Chaplin und Serge Lutens ein). Und der sinnlich-visuelle Gewinn der Piers liegt in der Drapierkunst ästhetischer Details: hier züngelt irgendwo eine einsame Stoffzunge zum Bootssteg, da bekränzen schmutzige Falten einen überquellenden Mülleimer, dort wirft Nässe Blasen im Gewebe, usw.
Bei einer Fläche von 13 Fußballfeldern muss doch für jedes Auge was abfallen.
© Wolfgang Koch 2016
Fotos: W. Koch
Als Christo Anfang der 70er das Tal in Colorado verhängte, habe ich noch über ihn gelacht, mein Kunstinteresse beschränkte sich auf Spitzweg und Co. Als ich (zu spät) die Fotos des verhängten Reichstages sah, war ich auf mich selbst stinksauer, dass ich nicht hingefahren bin. Für mich war das Projekt am ISEO-See ein Muss und auch einige meiner Freunde und viele Bekannte sind hingefahren. Es war das Beste, Fantastischte usw. Kunstwerk, das ich je gesehen habe! Herr Koch hat zwar in einigen Punkten seines Kommentars schon irgendwie recht, aber das Aufstehen morgens um 04.00 Uhr, das Anstehen, die Hitze, alles war es wert, zehn mal. Ich würde es jederzeit wieder machen.