Letzte Woche entnahm ich dem Holzmedium meines Vertrauens die Kurzmeldung, der Schauspielerin und Multimillionärsgattin Maria Furtwängler, bekannt als Tatort-Ermittlerin Charlotte Lindholm, sei in Hannover kurz vor der Auszeichnung der würdevolle Leibniz-Ring gestohlen worden.
Tags darauf unterrichtete mich das evangelische Buntmagazin +chrismon über gezählte »7 Dinge, die schon ewig funktionieren«. Auf Platz 1: die Espressokanne, auf Platz 7: die Bierflasche mit Bügelverschluss, und einen Rang davor, Platz 6: der Tatort – »Nicht totzukriegen. Sonntagabends ermittelt ganz Deutschland«.
Nun könnte man als Luther zugeneigter Protestant mal ganz naiv fragen, warum einem ein Print- und Onlineprodukt des Hansischen Druck- und Verlagshauses, also: eine 100-prozentige Tochter des GEP, also: des zentralen EKD, also: evangelisches Kircheneigentum bis in die Haarspitzen, überhaupt Espressokanne, Nougatcreme und Tatort als »ewige Dinge« näherzubringen versucht und nicht die Bibel, den Weihnachtstern und die Matthäuspassion.
Bringt nichts. Man könnte das fragen, aber es wäre wenig fruchtbar. Die Marketingspezialisten des Kirchenunternehmens hätte schwupps ein glatte Anworten parat, »Damit die an der Frohen Botschaft Interessierten auch mal was zum Lachen haben«, oder »Wir üben uns in beschädigungsarmem Sprechen und fallen nicht gleich mit der christlichen Mission ins Haus«, oder »Man muss wieder mit der Zeit gehen und der Jugend ein hippes Angebot legen«.
Egal; ändert nichts am Fakt, dass Tatorte Kult sind und dass uns die deutschen Polizeifilme praktisch täglich aus dem Programm anblicken, als wäre das berühmte Märchenhaus mit Schokolode-Lebkuchenherzen in Deutschland, Österreich und der Deutschschweiz durch Drogendealer, Päderasten, Ökoterroristen, Menschenschmuggler, Kapitalisten oder Softwareprogrammierer ernsthaft in Gefahr.
In meiner Umgebung gibt es Leute, die Tatorte immer gucken und solche die angeben, diese Mordgeschichten zu verabscheuen. Erstaunlicherweise sind die Verächter kaum schlechter über die Ermittler-Figuren und die Städtezuordnungen der Serie unterrichtet als die eingefleischten Fans.
Was auch soll der TV-Konsument unserer Tage machen, wenn er vor der Wahl zwischen Koch-Shows, Talkrunden und psychologisch frisierten Polizeifilmen steht?
Man kann die Speisenzubereitung am Bildschirm weder schmecken noch riechen; der Gourmet wendet sich also lieber dem Herd zu, um in die Genusswelt einzutauchen, und dreht dazu das Radio auf – eine Kombination, die von Geschmack und wahrer Medienkompetenz zeugt.
Oder denken Sie an diese Talkrunden mit ihren aufdringlichen Moderatoren, die jedes Gespräch in eine gelenkte Demokratie orientalischer Prägung verwandeln, wo Promis und Experten hundertmal geübte Stehsätze zum Besten geben.
Nein, dann lieber: diese halbverhüllten Leichen und die Gier in den modernistischen Glaskästen der Reichen, lieber: die Ermittler, bei denen fraglich ist, ob sie uns überhaupt noch schützen wollen, lieber: die gespaltenen Identitäten der Undercover-Polizisten, die entführten Kinder, die türkischen Obstverkäufer, die Kaffeetassen in der Prosektur.
Der österreichische Politikwissenschafter Alfred Pfabigan erklärt Tatorte in seinem soeben in Buchform erschienenen Analyse zu einem »mächtigen, länderübergreifenden Diskurs«. Die Serie werde als Gesellschaftsroman intellektuell ernst genommen, die Sendungen regelmässig in den überregionalen Qualitätszeitungen rezensiert.
Tatsächlich wissen wir alle, dass Frau Furtwängler in ihrer Jugend gekifft hat; und wenn die österreichische Sozialdemokratie mal wieder eine Wahlempfehlung braucht, und die braucht sie immer, tritt der grauhaarige Darsteller eines Oberinspektors im realen Leben in Dienst; wohnhaft im benachbarten Bayern, aber ausgestattet mit einer staatlichen Arbeitsplatzgarantie bis ins hohe Alter in Österreich, drückt der Schauspieler und Dutzfreund von Kanzlern dann den Landesbewohnern Solidarität mit den Regierenden ans Herz.
Der Tatort tangiert weit mehr als unser Unterhaltungsbedürfnis, er beeinflusst die Politik und vielleicht sogar den Sozialvertrag. In der erfolgreichen Serie sichtet nach Pfabigan eine »Tatort-Bourgeoisie« ihre Befindlichkeiten und Mentalitäten. Die Ermittler – also all diese fahrigen Sonderbeauftragten, verbissenen Einzelkämpferinnen und fleissigen Leichenbeschauer – sieht er als normsetzende Instanzen, die aktuelle soziale Sachverhalte filmisch kommentieren, ja die ästhetische Wertschöpfung der Polizeifilme produziert nach dieser spannenden Analyse gar »entmündigende Abhängigkeiten«.
Pfabigan hat ein an der Geschichte der Moderne geschultes Auge. Er will partout nicht glauben, dass die Mördersuche der einzige Zweck eines Krimis ist.
© Wolfgang Koch 2016
Alfred Pfabigan: Mord zum Sonntag. Tatortphilosophie. 205 Seiten, ohne Abbildungen, Residenz Verlag: Salzburg/Wien 2016, ISBN: 9783701733989, EUR 20,00
Foto: ARD, aus: Wofür es sich zu Leben lohnt; Schwerelos; Feuerteufel