vonWolfgang Koch 04.11.2016

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Der von mir hoch geschätzte Dietmar Kamper sprach 2001, in seinem Entwurf zur Geschichte des Ketzers, davon, die mentale Orthodoxie, das inquisitionsgeborene Gedankensystem der Gegenwart, sei als weltweit installiertes Imaginäres universal geworden:

»Auf allen Druckseiten, Leinwänden und Bildschirmen herrscht eine einzige Zeit, die der perfekten Zukunft unter Einschluss ihrer einfachen Verneinung: alles wird immer schon gewesen sein, nichts wird je gewesen sein. Anthropologisch formuliert: Der Mensch wird gewesen sein; er wird nicht gewesen sein«.

Nichts steht mehr auf Anfang: kein Kain erschlägt einen Abel. Von Freiheit keine Spur: überall der Leviathan in Schutzwesten mit ballistischen Einlagen.

Hat es aus diesem Blickwinkel überhaupt noch Sinn, Medienkritik zu betreiben?

Die Wiener Intelligenz ist, wenn sie sich nicht gerade im Beethovenhaus eine Kugel in den Kopf jagd, von Natur aus optimistisch. Sie kennt kein Bedenken, dass das Ende kein Ende nähe, kein Bedenken, dass nichts mehr am Anfang stünde, und Freiheit nur mehr der Tragekomfort einer Schutzweste wäre.

SÜDWESTRUNDFUNK Tatort - Heike Makatsch Hauptkommissarin Ellen Berlinger (Heike Makatsch). © SWR/Ziegler Film, honorarfrei - Verwendung gemäß der AGB im engen inhaltlichen, redaktionellen Zusammenhang mit genannter SWR-Sendung und bei Nennung "Bild: SWR/Ziegler Film" (S2). Presse / Fotoredaktion, Baden-Baden, Tel: 07221/929-22202, foto@swr.de

Nach dem Radio-Intellektuellen Franz Schuh hat sich nun Alfred Pfabigan als ein Krimi-Aficionado geoutet. Der Politikwissenschafter ist Mitbetreiber einer Philosophischen Praxis für Einzel- und Gruppengespräche in der Märzstrasse, im 15. Wiener Gemeindebezirk. Wir verdanken ihm eine Reihe von soliden Thesenbüchern über Gestalten der Ersten österreichischen Moderne (Karl Kraus, Max Adler) und der Zweiten (Friedrich Heer, Norbert Leser, Thomas Bernhard).

Reicht das zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den erzählerischen Möglichkeiten des Polizeifilms?

Tatsächlich realisiert man bei der Lektüre von Mord zum Sonntag bald, dass dem Autor methodisch kaum mehr zur Verfügung steht als Sprache und Begrifflichkeit des Feuilletons: die biblische Metaphorik Kains und die des Leviathans, polemische Ausfälle gegen den »lächerlichen Professor Boerne«, das Einforderung von Bürgerrechten und das Verlangen nach faire Behandlung von Transsexuellen.

Dem Staat, so Pfabigan, werde durch die Polizeifilme ein filmisches Gesicht gegeben; die Schauspieler seien häufig öffentliche Akteure weit über das angsterregende Filmgeschehen hinaus, sie erhalten Arbeitslosenunterstützung zwischen den Drehtagen, das Etikett »Staatskünstler« sei für sie nicht unangebracht.

Pfabigan stösst sich besonders daran, dass die Tatorte in Ländern produziert werden, die die Zwangsabgabe für Empfangsgeräte kennen. Das genügt dem Wissenschafter schon, um in der Serie einen »Bestandteil der Rituale der Machtausübung« zu sehen.

»Das Krimigenre mit seinen normsetzenden und bekräftigenden Ermittlern ist per se ein Instrument der Disziplinierung und leistet gesellschaftliche Erziehungsarbeit«.

In der Vernetzung mit Talkshows sei das Format »ein Instrument der Regierung« und ein »Bestandteil der nationalen Gouvermentalität«. Man sieht förmlich Kabinettsmitglieder die Haare raufen bei Streit um die Besetzung der nächsten Staffel. Soll einer emanzipierten Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) ein Seitensprung mit einem Nato-General widerfahren? Oder Thorsten Falke für offene Grenzen plädieren?

ONE TATORT: NORBERT, am Freitag (04.11.16) um 21:45 Uhr. Die beiden Kriminalhauptkommissare Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) und Ivo Batic (Miroslav Nemec). © NDR/BR, honorarfrei - Verwendung gemäß der AGB im engen inhaltlichen, redaktionellen Zusammenhang mit genannter Sendung bei Nennung "Bild: NDR/BR" (S2). WDR Presse und Information/Bildkommunikation, Köln, Tel: 0221/220 -7132 oder -7133, Fax: -777132, bildkommunikation@wdr.de

Man vermeint nach der Lektüre dieser philosophischen Analyse Köpfe im den Ministerräten von drei Ländern rauchen zu sehen, Staatsekretäre, die fiktive Tathergänge konstruieren, um die europäische Wertegemeinschaft zu festigen.

Bundeswehr, Nachrichtendienste, Sonderkommandos – ach, das war mal Das Sicherheitsdispositiv wird heute in Spielfilmlänge gesteuert, als hätte die politische Klasse gerade einen Grundkurs in massenpsychologischer Führung absolviert.

»Wer eine Serie versteht«, versichert uns Pfabigan, »hat auch ein wenig vom Leben an sich verstanden«.

Doch so einfach darf man sich die Allianz aus Politik und Medien nicht vorstellen, die es natürlich gibt – und zwar trotz der Verschwörungstheorien. Gewiss sucht die Politik unsere Sicherheitsbedürfnisse durch öffentlich-rechtliche Apparaturen zu beeinflussen, die Angst der Leute ist ein Austragungsfeld der Machtkämpfe in der Gesellschaft, keine Frage, aber wir stehen keinem staatlich-medialen Komplex gegenüber wie wir dem militärisch-industriellen Komplex gegenüber stehen.

Mich erinnert dieser Einfall einer massenmedialen Lenkung durch Polizeifilme an einen führenden Linksradikalen der 1970er-Jahre, der den Vorwurf der staatlichen Manipulation von Medieninhalten in die Nichtberichterstattung, in das redaktionelle Verschweigen von Tatbeständen, verlegte:

»Warum lebt eine ganze Medienindustrie davon, den absurden Tod von jährlich 17.000 Verkehrsopfern und von 6.000 Fabriksarbeitern als unabwendbares Schicksal der Trauerarbeit zu überantworten?«

ARD/rbb TATORT: DUNKELFELD, am Sonntag (11.12.16) um 20:15 Uhr im ERSTEN. Hauptkommissarin Nina Rubin (Meret Becker) und Anna Feil (Carolyn Genzkow) eilen dem gekidnappten Karow zu Hilfe. © rbb/Oliver Vaccaro, honorarfrei - Verwendung gemäß der AGB im engen inhaltlichen, redaktionellen Zusammenhang mit genannter rbb-Sendung bei Nennung "Bild: rbb/Oliver Vaccaro" (S2+). rbb Presse & Information, Masurenallee 8-14, 14057 Berlin, Tel: 030/97 99 3-12118 oder -12116, pressefoto@rbb-online.de

Das war die Stimme von Karl Heinz Roth, arbeiterbewegter Arzt, Sohn eines Polizeimeisters, 1975 an der Seite von gesuchten Terroristen lebensgefährlich von Polizisten verletzt. Aus ihm wurde nie mehr ein Universitätsprofessor mit eigener Praxis, er betrieb seine philosophischen Gruppengespräche in den letzten Jahrzehnten mit Autonomen und Attac-Aktivisten.

Wahrscheinlich gut so, sonst hätte er womöglich vom Sofa aus die Realität studiert und wäre zum gleichen zynischen Ergebnis wie Pfabigan gelangt:

»Die gelösten Fälle eines Polizeifilms haben die tröstende Botschaft, dass die Aufgabe unserer Freiheit doch einen Sinn hatte«.

© Wolfgang Koch 2016

Alfred Pfabigan: Mord zum Sonntag. Tatortphilosophie. 205 Seiten, ohne Abbildungen, Residenz Verlag: Salzburg/Wien 2016, ISBN: 9783701733989, EUR 20,00

Foto: ARD, aus: Fette Hoppe; Heike Makatsch; aus: Norbert; Dunkelfeld

 

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