Der Wiener Philosoph, Übersetzer und Mitherausgeber der Zeitschrift Tumult ist – nach Franz Brentano, Robert Zimmermann und Fridolin Wiplinger – der vierte bedeutende Aristoteliker in der dramatisch kurzen Geschichte der österreichischen Philosophie.
Dramatisch kurz, weil einerseits das akademische Philosophieren in den habsburgischen Kronländern überhaupt erst im 19. Jahrhundert in Schwung kam und im 20. Jahrhundert von den Weltkriegen arg im Mitleidenschaft gezogen worden ist.
Kurz aber auch, weil bis herauf zum Hegel-Gestirn des Systemdenkens die Lehren von Platon und Aristoteles stets als eine Einheit rezipiert worden sind, man also von einem eigenständigen »Aristotelismus« überhaupt erst seit dem 19. Jahrhundert sprechen kann.
So gesehen ist dann die österreichische Ehrentafel mit den Namen »Brentano – Zimmermann – Wiplinger – Seitter« gar nicht einmall so kurz für ein kleines Land, gar nicht so mickrig für seine bescheiden in die Welt hinaus strahlenden Universitäten, seine häufig in Stallnähe in den Bergen tagenden Symposien und die halbmusealen Thinktanks am Subventionshahn des Wissenschaftsministeriums.
Zu Seitters 75. Geburtstag haben fünfzig österreichische Intellektuelle panagyrische Texte und Bildcollagen zusammengetragen. Herausgekommen ist auf diese Weise ein Essayband, den der Jubilar zwar als Ganzes für »unlesbar« hält, weil ihm ein zwingender Zusammenhang darin fehlt – ein Zusammenhang, der Seitter allerdings selber ist, und von ihm daher offenbar schwerer wahrnehmbar als von den nichtbetroffenen Lesern.
Vielleicht noch eindrucksvoller als die Liste der Autoren und Autorinnen – Philosophen, Künstler, Psychoanalytiker von Stand und Rang – ist die Liste der Themen, denen sich die Essays dieser 300 Seiten starken Festschrift widmen.
Bereits die Titel der Essays umreissen den ganzen Sprechraum der Seitter‚schen Existenz – und ich habe jeweils eine markante Aussage aus dem Text hinzugefügt, um zu zeigen: Hier wird einer geehrt, den wird man wegen der Breite und der Tiefe seiner Erscheinung nicht sofort vergessen können.
ABGRUND Wenn es einen Abgrund gibt, so muss es mehr als diesen einen Abgrund geben.
ACHILLEION In diesem Garten scheint überhaupt alles bedeutungsvoll zu sein.
BERG Berge sind Riesenzeichen, Megagramme, halb aufzeigend, halb geheimhaltend.
BÜROSESSEL Marterinstrument in der schizophrenen Situation einer fröhlichen Welt permanenter Bereitschaft.
DAUERKRISE Mit dem Begriff des »Zwischenmenschlichen« setzt Martin Buber 1905 auf die im »Sozialen« vereinnahmte Dimension.
DING Jacques Lacan definiert Sublimierung als die Erhöhung des Objekts zur Würde des Dings.
DIVIDUUM Platons menschliche Seele inkorporiert aus der Konsequenz ihrer Mangelhaftigkeit.
ERSETZUNG Österreich ist durch bürokratische Reform zu Staat geworden; aufgeklärter Absolutismus reduzierte dabei Philosophie auf ihre Bildungsfunktion an Schulen.
FREUNDSCHAFT Anders als die Naturwissenschaften spürt Philosophie beständig ihren Vorgängern nach, indem man sie immer wieder neu liest.
GEBEN Die Mitte zwischen Geben und Nehmen bedeutet eine Art energeia, die dem Besitzenden wie dem In-Besitz-Genommenen zukommt.
GOTT-VATER Die christliche Liebe stellt den höchsten Anspruch an die Subjekte als verantwortliche Individuen in einer freien Bürgergesellschaft, gegen Massenhysterie, Ideologien und Gewalt dar.
HAUT Weiblichsein ist Haut sein, und ist ein Schwingen zwischen Nacktheit und Enthüllung.
HEROLD Der theatralische Philosoph nach Brecht muss neben sich stehen, um tätig werden zu können.
LIMINALITÄT Die Brücke erschafft sich gleichsam selbst und noch die Kluft unterhalb der Brücke, die nun zum Teil der Konstruktion wird.
LÖCHER Das Loch in seiner minimalsten Form als Punkt ist die mediale Grundfigur des Sehen-machens.
MEDIEN Ausgerechnet Michel Foucault, der kein Medienwissenschaftler war, schrieb die Geschichte alles dessen, worin es Denken gibt.
MEER Das Schauen des Meeres gibt uns die Freiheit des Geistes wieder zurück.
MENSCH Das Projekt »Mensch« hat sich in eine Depression verwandelt.
MENSCHENFASSUNGEN Zwischen dem Wissen über Politik und dem Gebrauch von Wissen in der Politik gibt es einen Unterschied.
MIKROPHYSIK Man kann nicht zugleich denken und über das Denken nachdenken.
MILCH Kein klinisches Weiss, sondern ein sanfteres; weniger kalt als das Krankenhaus- oder das Computerbildschirmweiss.
NACHT Gustav Klimts taghell beleuchtete Figuren vor dem Dunkel machen die Nacht als ausserirdische Zeit verstehbar.
PHYSIS Unter ihrer Logos-Haftigkeit versteht Wiplinger, dass die Form-Gestalt des Körpers im Anblick seiner Erscheinung den Zugang zur Wirklichkeit eröffnet.
PLATON, ARISTOTELES Mit fast allen Wörtern der menschlichen Sprache wurde und wird das Allgemeine ausgesprochen, wenn sich die Sprechenden auch meistens dessen nicht deutlich bewusst sind.
POLYPHONIE Rousseau projiziert seine gesellschaftspolitische Idee vom »Gemeinwillen« in die Musik hinein.
SCHLEIERMAUER Die Mauer als Schleier verhüllt nicht nur einen Körper, sie allein ist schon ein Körper. Eine Schleiermauer verbirgt den Körper hinter einem Körper.
SPIEGELKUGELN Die Discokugel macht dem Tänzer vor, war er ihr nachtun soll: sich drehen, um Zentrum der eigenen Welt zu werden.
STEINWURF Die Körpererinnerung des Wurfs und ihr Erlebniswert übertrug sich auf die komplizierten symbolischen Formen der sogenannten Ballspiele.
STERNENFUNKELN Das Funkeln der Sterne ist »geophän« – ausserhalb der Erdathmosphäre wäre es nicht vorhanden.
STIMMEN Dass wir unser Selbst als ein von der Aussenwelt abgetrenntes Inneres erleben, ist eine Erfahrungsweise, die sich erst um das 5. Jahrhundert vuZ zu etablieren begonnen hat.
THOMAS (APOSTEL) Etwas in Jesus bringt ihn dazu, gegenüber Thomas den Zweifler zu beweisen, was per se ohnedies nicht bewiesen werden muss oder kann.
TÖNE Für den Konfuzianer bilden Musik und Ritus das Zentrum des philosophischen Systems, von denen alle anderen Bestimmungen abzuleiten sind.
TRAUM Je ausgeprägter das Vermögen poetischer Einbildungskraft, desto höher das Vermögen träumerischer Erinbildungskraft.
TRIANGULATION Das Grundprinzip der Kenosis kann nicht mehr auf das trinitarische Dogma angewandt werden, es sei denn in Form der Perichorese.
TYPOGRAPHIE Erscheinung oder Geltung hat immer eine zeitliche und eine räumliche Gegenwärtigkeit oder Daheit.
UMSTÄNDE Das Spezifische der Erfahrung besteht darin, dass sie zwischen der Identifikation des Falles und der Exekution der Regel chanciert.
UNTERDRUCKKAMMER Dank der inneren Unbestimmtheit des Menschen hat die historische Konstellation mehr aus der 68er-Generation herausgeholt, als drin gewesen ist.
UNTER-ICH Wir haben gelernt auch Wesen, die wir als weniger einsichtig einschätzen als uns selbst, gefallen zu wollen.
UNTERSBERG Der Berg ist die sichtbare Krone jenes unsichtbaren Kaisers, dessen Unsichtbarkeit die Fortdauer der Welt bedeutet.
VERAUSGABEN Krieg ist ein in vielerlei Hinsicht lohnendes Geschäft, weswegen er auch betrieben wird.
VERKEHR Auch der menschliche Körper kann als Transporteinheit aufgefasst werden: eine von Haut und Gewand umhüllte Kapsel, die von einem Piloten gesteuert wird.
WACHS Versinnbildlicht in seiner amorphen Trägheit die innere Formlosigkeit der Dinge.
WORT Es ist eine dauerhafte Verführung, das Wort logos mit einem anderen Wort wiederzugeben als mit Wort.
WÜSTE Sehe ich weniger, wenn ich »nur Sand« sehe?
ZWEI SEITEN Es gibt kaum schönere Ordnungen als die tanzenden Tetraeder der Wassermoleküle mit ihren tunnelnden Protonen.
Sehen und Sagen. Für Walter Seitter. Hg. von Ivo Gurschler, Sophia Panteliadu, Christopher Schlembach, 308 Seiten, Wien: Sonderzahl 2017, ISBN: 978 3 85449 467 6, EUR 22,-
Foto: Peter Kubelka
© Wolfgang Koch 2017