vonWolfgang Koch 13.06.2017

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Wie ist es möglich, dass eine Katzenausstellung mehr Einblick in die Gegenwart erlaubt als eine »internationale Debatte« führender Intellektueller? Diese Frage beschäftigt mich seit der Eröffnung der Kunstausstellung Katzenkorb & Löwengrube, die ein Erwachsenenpublikum in das Wiener Naturhistorischen Museum locken soll.

250 Exponate kombinieren zoologische Präparate mit unterschiedlichen Darstellungen von Gross- und Kleinkatzen, Mythenwesen und Mumien, von Kurator Bernd Ernsting zu kabinettartigen Szenerien arrangiert und mit einem manufaktumartigen Begleitheft versehen. Von der präparierten Katze mit täuschend echten Atembewegungen im Fahrradkorb auf der Feststeige gelangt man zu den kulturgeschichtlichen Stationen (Sphinx, Arche Noah, Daniel in der Löwengrube, Herakles, Aesop), weiter in ein erotisches Kabinett und in ein Tierstimmen-Archiv.

Diese Sonderaustellung mit Objekten, Gemälden, Bildwerken und Graphiken aus Wiener Museumsdepots und deutschen Sammlungen wäre im Haus gegenüber, dem Kunsthistorischen Museum (KHM), durchaus besser aufgehoben; sie hätte sich mehr Platz und mehr Aufmerksamkeit verdient, zumal sie der angeblichen »Verrohung unserer Kultur«, dem »absurden politischen Theater« der Gegenwart, den Prozessen »regressiver Modernisierung« einen auf die Natur- und Kulturgeschichte konzentrierten Blick entgegenstellt, der aktuelle intellektuelle Anstrengungen mit simplen Mitteln beschämt.

Bestien. Wo undurchschaubare, sinistre und furchteinflösende Bestien die Erde beherrschen, da wird sie unbewohnbar. Der Vorgang gehört, wenn man den Autoren der Suhrkamp-Kultur glauben schenken will, heute zu den Globalisierungsrisiken in den äusseren Randgebiete der Zivilisation. Der Zerfall von Staatlichkeit und Ordnung in der Armutsländern hat eine »Migrantenrevolution« in Europa hervorgerufen – die Löwenländer haben in Form Abschottungspolitik »die grosse Regression« des Rechtspopulismus in Form von Brexit und Trump hervorgerufen, eine historische Reaktion, die unsere pluralistische Gesellschaft angeblich an den Rand des Kollaps treibt.

In der Katzenausstellung sehen wir, dass in der Kartographie der Römer der Ausdruck hic sunt leones (hier sind die Löwen) ein unerforschtes und deshalb als gefährlich geltendes Gebiet bezeichnet hat. Die Steigerung der Bezeichnung einer solchen terra incognita lautete dann hic sunt dracones – hier sind die Drachen!

Kehren dieses Unorte der Antike tatsächlich wieder? Ziehen Löwen klammheimlich in unsere Nachbarschaft in Afrika und in Asien, wo die Staatlichkeit zerfällt, wo Hilfsorganisationen weitgehend unbemerkt von der Weltöffentlichkeit das Weite suchen?

Nun, diese Diagnose einer Rebarbarisierung in den ärmsten Landstrichen der Erde ist nicht gerade neu. 1991, also gleich nach dem Fall der Berliner Mauer, veröffentlichte der Franzose Jean-Christophe Rufin ein luzides Buch zur neuen Weltlage und beschrieb die neuen Terrae incognitae von den Anden bis zur Sahara, von Südfafrika bis zum indischen Subkontinent, von der Arabischen Halbinsel bis zu den Gebieten am Himalaja so:

»Ein grosser Teil der erforschten Gebiete ist zurückgefallen in seinen früheren Zustand. Diese Gebiete sind für die Weltöffentlichkeit nicht zugänglich, sie befinden sich nicht mehr unter Kontrolle der regulären Behörden, sie stehen jedem Eindringen von Fremden feindselig gegenüber«.

Wie gesagt, diese Warnung kam 1991. Die Löwengebiete, schrieb Rufin damals, entfernen sich von der Welt, ziehen sich auf sich selbst zurück. Oftmals sind sie Schauplatz grösster Dramen, ja Tragödien. »Das erste Merkmal der neuen Barbaren besteht eben darin, in der Undurchdringlichkeit, die ihre fernen Territorien umschleiert und inmitten der südlichen Erdteile neue Abgründe des Rätsels und der Autonomie aufklaffen lässt«.

Die weissen Flecken reichten nach Rufin schon vor einem Vierteljahrhundert ihrer Fläche und vor allem der Zahl der von ihnen erfassten Menschen nach an die Grösse der 1930er-Jahre heran. Von dort ergiesst sich heute die Flut der Migrantenrevolution auf Europa.

Löwenländer sind zersplitterte Zonen des bewaffneten Aufstandes, die letzten Zeugen des Elends, humanitäre Organisationen, ziehen sich daraus zurück. In den Löwenländern agiert keine traditionelle Guerilla, die nach Respektabilität und Anerkennung giert. Die politische Instabilibität des Südens ist auch keineswegs nur in den ländlichen Gebieten zu finden, sondern im Urwald der Städte, in den Flüchtlingslagern, auf den Kähnen und Booten.

Tourismuskarten gleichen nun den Karten der frühen Seefahrer: sie bilden Handelskontore an den Pforten feinseliger Kontinente ab. Fünf Jahre nach Rufin bestätigte der US-Journalist Robert D. Kaplan auf seinen Reisen zu den Grenzen der Menschheit die verstörende Analyse. Sein »allgemeiner Weltzustandsbericht« von 1996 stellte die Möglichkeit eines zweiten Kalten Krieges in den Raum.

Kaplan sah überall in den Entwicklungsländern Männer und Frauen in die Städte strömen und sie in groteske Dörfer verwandeln – er sah diese Menschen bereits vor zwanzig Jahren eine neue Zivilisation schaffen, in der nationale Grenzen wenig, Kulturgrenzen aber alles sind.

»Nomaden sind Pioniere auf der Suche nach einem neuen Leben. Nomaden gestalten die Geschichte«. Kaplan erkannte, dass diese neuen Armen die Fähigkeit besitzen, mit Ungewissheiten, Rätseln und Zweifeln zu leben, ohne nervös nach Fakten und Begründungen zu greifen. Sie sind weder Modernisierungs- noch Gobalisierungsverlierer – nein, sie besitzen die für die Gegenwart notwendige Widerstandskraft, während sich die reichen Nationen im ökonomischen Wettbewerb lustvoll selbst vernichten.

Kaplan sah auf der Weltkarte ein bewegliches Muster von Öko- und Pufferregionen, die das Bild eines unentwegt mutierenden Chaos bieten, in einigen Gegenden gutartig und produktiv, in anderen destruktiv. Weil diese Weltkarte sich ständig verändert, wird sie täglich in den Nachrichten auf den neuesten Stand gebracht.

In der »internationalen Debatte über die geistige Situation der Zeit«, die der Suhrkamp-Verlag 2017 mehr simuliert als anschiebt, ist nun erneut vom rasanten Anwachsen der Löwenländer die Rede. Aber viel nachgedacht hat diese »nachdenkliche Linke«, zu der Zygmunt Baumann, Donatella della Porta, Eva Illouz, Bruno Latour, Pankraj Mishra, Slavoj Žižek und weitere acht Beiträger zählen, eher nicht. Der wenig beindruckende Debattenband bleibt von seiner Brisanz her weit hinter Rufin und Kaplan zurück, und methodisch auch hinter den von Jürgen Habermas im selben Verlag herausgegeben Stichworten zur geistigen Situation der Zeit aus dem Jahr 1979.

Diese Zeitdiagnose der Nach-68er-Intelligenz hatte sich auf 861 Seiten ihrerseits den 1000. Band der Sammlung Göschen – Die geistige Situation der Zeit von Karl Jaspers, 1931 – zum Vorbild genommen. Epochale und lehrreiche Texte. 2017 weht bei Suhrkamp erneut »Weltoffenheit« auf der Werbefahne, aber die kollektive Anstrengung, progressive Politik neu zu erfinden, erschöpft sich de facto im Modellieren neuer Feindbilder und dem Mantra von der Schlechtigkeit des Populismus.

Den höchsten Rang unter den Feindbildern nimmt naturgemäss die »neoliberale Globalisierung« ein – ein Begriff, mit dem die Zunahme prekärer Lebensumstände so wenig zu verstehen ist, wie mit dem Begriff »Wirtschaft« das Produktionsverhältnis von Kapital und Arbeit.

An drei Karten der Wiener Katzenausstellung hingegen lässt sich lernen, was Motivmuster bedeuten und wie sie durch die Zeiten und zwischen den Anlässen wandern können. Die römische Tabula Peutingerina verzeichnet die gefährlichen Gebiete noch mit den ausgeschrieben Worten für Löwen und Drachen. Auf der Ebstorfer Weltkarte, die um das Jahr 1300 entstand und deren Original verbrannt ist, liegt Jerusalem im Mittelpunkt der Erde, und gezeichnete Grosskatzen repräsentieren den finsteren Erdteil Africa.

Dann der Sprung in die Moderne: Auf der Landkarte Leo Belgicus aus 1617 wird das Territorium Flanderns stolz von einem sitzenden Löwen eingenommen; die Fremdherrschaft der Habsburger hat sich nun das bedrohliche Löwenfell als Warnung an die renitenten Untertanen über den Kopf gezogen. Die kriegerische Zivilisation expandiert fortan unter dem Zeichen, mit dem die Antike ihre Furcht vor der Barbarei markiert hat.

Von Flandern aus ist es dann nur mehr ein kleiner Schritt in jene Gegenwart, die unsere Paradeintellektuellen für eine hochkomplizierte politische-ökonomische Diktatur des »Neoliberalismus« halten, die aber in Wahrheit nichts anderes ist als eine Humanokratie, die im Zeichen von Tatze und Pranke knapp die Hälfte aller Katzenarten weltweit durch den Menschen bedroht.

© Wolfgang Koch 2017

Naturhistorisches Museum Wien: Katzenkorb & Löwengrube, Natur- und Kunstausstellung von Cranach bis Klimt, 250 Objekte, Kurator: Bernd Ernstling, tägl. ausser Dienstag, bis 8. Oktober 2017

Heinrich Geiselberger (Hg.): Die grosse Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit, 15 Analysen, 313 Seiten, Suhrkamp Verlag Berlin 2017, ISBN 978-3-518-07291-2

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