vonWolfgang Koch 25.05.2018

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Wenn alle wieder von Karl Marx reden, reden wir von dem Mann, der ihm die besten Gedanken geliehen hat. Lektion 2: DIE RELIGION.

Der »logizifierte Theologe« und deutsche Welteinheitsdenker G.W.F. Hegel erkennt in der Religion das Selbstbewusstsein des absoluten Geistes. Ludwig Andreas Feuerbach setzt seine eigenen Überlegungen zu dem Thema in einer viel näheren Dimension des Alltags an, er sieht im sehnsüchtigen Wünschen des Menschen den Ursprung eines jeden religiösen Fantasmas. Feuerbach schreitet dabei von der absoluten Idee Hegels, dem Kulminationspunkt der spekulativen Philosophie seiner Epoche, zum sinnlich-somatischen Ich und Du.

Anders als die Philosophie, die zwangsläufig zu Ernüchterung und Enttäuschung führt (auch zur Enttäuschung über sich selbst), geht es in der religiösen Spekulation um Selbsttäuschung: Ich halte mein eigenes Wesen für ein anderes; und ich glaube etwas anderes als mich selbst auszusprechen. Dieser Illusionismus ist für den Philosophen Feuerbach umso erstaunlicher, als ja jede Religion rationalistisch gegenüber den anderen Religionen argumentiert. Hauen die Moslems auf die Ungläubigen ein, so begründen sie das mit der Überlegenheit der ihren offenbarten Wahrheit. Weisen die Christen asiatische Kulte zurück, so weil diesen angeblich eine praktische Ethik fehlt. Man könnte sagen: Die gegeneinander eifersüchtigen Illusionismen mästen sich an der geistigen Ruhe, um sich selbst in das Zentrum der menschlichen Vernunft zu stellen.

Das reine Wesen der Religion tritt freilich nicht in dieser intoleranten Aussenwirkung zutage, sondern in der übergreifenden Gestalt des Mystikers. Einen »parasitären Krebs« nennt ihn Feuerbach, einen »krummen Rationalisten«, der um jeden Preis an seinem durch Zweifel erschütterten Glauben festhalten will. Mystifizieren heisst: Ich setze mich ausserhalb von mir und nehme mich dann wieder zurück, bis ich allein im Schneckenhaus sitze.

Man hat Feuerbach als Pantheisten vereinnahmt, und ihn noch öfter zum Fahnenträger des Atheismus verklärte. Beides ist nur halbrichtig, also halbfalsch. Beim Nachdenken über Tod und Unsterblichkeit streut Feuerbach seine intellektuellen Samen milde und vorsichtig in die Furchen der Erde: Er, von seiner Herkunft her Protestant, will die gemeinsame »Urreligion« aller kultischen Richtungen wiederherstellen, den pantheistischen Sensualismus im Sinn eines »reifen, männlichen Bewusstseins«.

© Wolfgang Koch 2018

Themenfolge

Christentum, Religion, Gott, Natur, Leben, Tod, Leib, Sinne, Empfindung, Wahrheit, Erkenntnis, Denken, Philosophie, Wissen, Wissenschaft, Sein, Mensch

Feuerbach-Code

Anschauung = Registration, Sinneswahrnehmung, Weltaneignung

Denken = Seinsfolge

Empfindung = Rezeptivität

Enttäuschung = Aufklärung

Leib = Daseinseinheit der Subjektivität

Sinnlichkeit = Wirklichkeit

Wahrheit = erkannte Lebenstotalität

Foto: Marie Obermayr (Ausschnitt). Wien hat 2018 erneut den Frühling übersprungen und ging fast nahtlos vom Winter in den Sommer über. Haben wir in unseren Breiten bald, wie in den Tropen, nur mehr zwei Jahreszeiten? Die Aufnahme stammt von einer Stadtwanderung durch die Grossfeldsiedlung und ihre erstaunliche Kleingartenumgebung in Leopoldau, Floridsdorf.

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