vonWolfgang Koch 12.03.2024

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Lojze Wieser ist der Kärntner Slowene, mit dem jeder Mensch in Österreich gerne befreundet wäre: schrullig, lustig, klug, informiert, ein korpulenter Mann von sanftem Auftreten, vielsprachig, ein hochgebildeter Optimist, ein von Neugier getriebener Problemlöser, ein bisschen wie Alexander Kluge, aber ohne Theorieballast und Opernleidenschaft, ein bisschen wie Werner Schneider, aber kein Satiriker.

Lojze Wieser ist minutiös wie ein Gelehrter. Er meditiert gerne schweifend. Der vielfach ausgezeichnete Verleger ist seit Jahrzehnten bestens vernetzt bis hinein in die Raucherkammerln der österreichischen Ministerien, als TV-Gastrosoph bei 3sat geniesst er mittlerweile auch Prominenz im grossen deutschen Speisesaal.

Privat ist Wieser stets dem Gespräch mit Autor·innen zugeneigt, dazu kommen das  Schlemmertum seiner kulinarischen Reisen und ein gewisses Faible für Homöopathie. Lange sagte der Mann: »Das Land, das uns alle verbindet, ist die Literatur«. Heute sagt er: »Geschmack ist wie Lesen. Es geht darum, mit der den Gerichten im Topf innenwohnenden Harmonie eins zu werden und durch das neu erlangte Wohlbefinden Kraft für Körper und Seele zu finden«.

Ein Heimatforscher neuen Schlags, könnte man meinen, der Vorschmecker der südösterreichischen Kasnudl-Region, und ein Wellness-Berater dazu. Jedenfalls ein gelungener Kulturunternehmer mit leidenschaftlicher Liebe zum kleinstädtischen »Zommstehn am Mårkt«. Begonnen hat die wundersame Karriere Wiesers allerdings ganz anders, und zwar im exotischen Milieu des Linksradikalismus im Wien der 1970er-Jahre.

Kämpferischer Anfang

Im Zuge der damals auseinander fallenden Protestbewegung an den Universitäten formierten sich leninistische, stalinistische und maoistische Organisationen. Diese sich als »Vorhut des Proletariats« gerierenden Miniparteien kokettierten offen mit den totalitären Konzepten von kommunistischen Staaten wie der Sowjetunion, China, Kuba oder Albanien. Sie pinselten Hammer und Sichel auf ihre Fahnen. Gegen jede politische Erfahrung immunisiert, liessen die ML-politisierten Studierenden die historisch falsifizierten Projekte der Linken aus den 1930er-Jahren wieder aufleben.

Überall sollten »Volksfronten« gegen Rechts gebildet werden, der Neue Mensch einer klassenbewussten Ordnung aus der sozialistischem Lebensreform hervortreten. Die Linken gaben sich unbeugsam und eiferten den Vorbildern gelobter kommunistischer Diktaturen in der Ferne nach.

Alois Wieser, wie der Kärntner sich damals noch nannte, stürzte sich mit seinem Bruder Peter in die Aufbauarbeit von »Kommunistischen Bünden«, die damals in Graz, Linz, Salzburg/Hallein, Tirol und Wien aus dem Boden schossen. Und als treuer Kader gründete Alois in Wien-Neubau, Halbgasse 12, eine Verlagsdruckerei für die Propagandabroschüren der Austromaoisten.

Im September 1975 verlegte Wieser die Kampfbroschüre ›Gegen die Folgen der Krise! Gegen die Kapitalsherrschaft!‹. Im März 1976 erschien, als weiterer verlegerischer Streich, die 64-Seiten-Broschüre ›Gegen jede Minderheitenfeststellung! Für die volle Gleichberechtigung der Minderheiten in Österreich!‹ in einer Auflage von 2.400 Stück.

Das war ein materialreicher und politisch brisanter Aufruf an »die österreichische Arbeiterklasse«, sich »jeglicher Diskriminierung der Minderheiten durch die öffentliche Gewalt in Österreich« zu widersetzen. Zitat: »Jeder Arbeiter und jeder fortschrittliche Mensch sollte, indem er diese Forderung unterstützt, Chauvinismus und Diskriminierung der Bourgeoisie und ihren reaktionären Anhängseln überlassen«.

Popkritiker Diedrich Diederichsen meint in der aktuellen Ausgabe der Schweizer WOZ, die Gegenwart müsse von ’68 auf jeden Fall lernen, den Fehler der K-Gruppen-Bildung, »also den Realitätsverlust von Splittergruppen mit allen psychischen Folgen für die Beteiligten«, zu vermeiden. Als Folge des Gazakrieges produzieren Linke heute wieder »extrem eingekapselte, rigorose Weltbilder«. Es gibt hässliche Konfrontationen im Kulturbetrieb, Leute werden auf Veranstaltungen niedergeschrien oder bespuckt. Dagegen helfe nur, den Anspruch auf das letzten Wort und Aggression ad personam am digitalen Pranger zu unterbinden.

Zurück in der Provinz

Als die K-Gruppen-Ära der 1970er-Jahre in die Gründung alternativer Wahllisten mündete und die Rettung des Proletariats in den Alarmismus der Ökologie überging, kehrten die Gebrüder Wieser nach Kärnten-Koroška zurück. Der klassischen Reproduktionszyklus schloss sich und die Intelligenzler brachten jetzt praktisches Verleger- und Übersetzerwissen in die Provinz des zweisprachigen Bundeslandes mit.

Ein paar Jahre später, 1987, gründete Lojze Wieser dort seinen Buchverlag und begann damit literarische und kulturelle Grenzen zu verschieben, ohne die politischen Eingrenzungen des Sprachgebrauchs in Frage zu stellen. Der Buchproduktion in den beiden Landessprachen Deutsch und Slowenisch ging es vor allem um die Grenzen in den Köpfen. 

»Literatur überwindet Grenzen«, sagt Wieser. »440 Jahre lang wurde in der slowenischen Sprache literarisch geschrieben, ohne dass es in der modernen Erfindung des Nationalstaates geschah und, es wird weitergeschrieben, obwohl – oder auch – weil oder seit ein Teil der Kultur und Sprache sich in einem Nationalstaat wiederfindet, ein anderer sich aber ausserhalb befindet. Was sagt uns das? Sprache, oft genug missbraucht lebt und entwickelt sich innerhalb und ausserhalb eines Korsetts oder Territoriums und widersetzt sich – früher oder später – dem Missbrauch. Das Kulturleben lässt nicht zu, dass sich eine Sprache über eine andere stellt, nur weil sie die Organe einer Staatsmacht dazu drängen«.

Lojze Wieser mit Peter Handke vor dem Ristorante Alla Bama Bianca in Duino. Foto: Mayü Belba 2022

Mit heiterer Wissbegier bewies Wieser grosses Gespür für Hochliteratur und für den Kulturtransfer vom europäischen Süden und Osten in den deutschen Sprachraum. Literatur ist ja eingerückt in die Perspektive ihrer Zeit; erstaunlich und anrührend aber wirkt, dass es an gelungenen Texten immer etwas gibt, das sich irgendwann mit Gewinn aus dieser Perspektive auch wieder lösen lässt.

Verleger ist nicht gleich Verleger

Heutzutage denkt man sofort, ein Verleger müsse ein Manager sein. Wieser war das vier Jahrzehnte hindurch nicht! Er war Leser, Entwickler, Verhandler, Mediator, Büchernarr, Autor sogar. Wieser komponierte eine kluge Dramaturgie der Neuerscheinungen, er setzt in seinem Programm auf das Konzept der Reihenausstattung, und auf die Chance, dass wenige erfolgreiche Titel die anderen mitziehen.

Den Durchbruch erzielte der Wieser Verlag mit der bibliophil aufgemachten Reisebuch-Reihe ›Europa erlesen‹, die inzwischen mehrere hunderte Titel umfasst. Das Zugpferd des Wissenschaftsprogramms ist ›Wiesers Enzyklopädie des europäischen Ostens‹ (WEEO), ein in Zusammenarbeit mit mehreren Universitäten bereits auf zehn Bände angewachsenes Standardwerk der Kulturforschung.

Fast 1.300 Bücher sind es in 36 Jahren geworden. Rund zehn Prozent davon Sachbücher und wissenschaftliche Werke von zirka 3.000 Verfasser·innen, das Gros Belletristik, davon wiederum rund 450 Übersetzungen aus dem Ost- und Südosteuropäischen Raum (weitere 950 bei Drava). Im Buchhandel ist Wieser ein starker Sympathieträger, weil sich der Verlag für das faszinierende Kaleidoskop präzise formulierter Überlegungen ebenso einsetzt wie für das stille Wort. Das Verlagshaus bietet  Debütant·innen eine Bühne, hilft Übersetzer·innen bei ihrer Vermittlungsarbeit und führt Gesamtwerke von Autor·innen zusammen.

Gut ging das natürlich nicht immer. Wiesers Mischkalkulationen fehlte mehrmals das benötigte Quäntchen Fortune. Der Gewinn blieb immer wieder aus, der Verlag musste zweimal neu gestartet werden. Lojze Wieser änderte am Auftritt seiner Bücher alles Mögliche, nur eines nicht: Am Ende entschieden bei ihm immer Erfahrung und Bauchgefühl.

»Heute«, sagt der Verleger stolz, »finden sich die kleinen Literaturen Europas mit den in anderen Häusern verlegten in guter – oder auch nicht, wer weiss – Gesellschaft. Slowenische, kroatische, serbische, rumänische Werke sind alle in einer imaginären Gesamtbibliothek lieferbar. Das ist doch was! Das hat es vor uns nicht gegeben«. 

Den Schlusspunkt seines Verlegerlebens krönt der Österreicher nun mit knapp drei Dutzend in der ›Slowenischen Bibliothek‹ (SLOW) edierten Büchern. Die in drei regenbogenfarbenen Kassetten verlegten Werke sind in einen zeitlichen Rahmen vom 19. Jahrhunderts bis heute gestellt. Die literarisch wertvolle Reihe beginnt mit Gedichten von France Prešeren und dem literarischen Auftritt von Peter Einsam alias Josip Stritar, dem Gründer der wichtigen slowenischen Literaturzeitschrift Zvon (Die Glocke) in Wien. Und die imaginäre Reise dieser Übersetzungsbibliothek endet mit ›Sterneklare Nächte am Karakorum‹, einem Bergsteigerroman des in Triest lebenden Dušan Jelinčič, der im Original 1990 erschienen ist.

Keine Angst! Die nationalliterarische Bibliothek endet nicht im letzten Jahrtausend. Die Reihung der Bände verläuft nicht streng chronologisch. Wieser hat auch noch Schöpfungen aus den Jahre 2012 und 2016 mitaufgenommen. Denn nicht ein rastloses Hin und Her ist das Kennzeichen seiner Herausgeberschaft, sondern erfrischende Neugier und gediegene Unruhe, behilflich jeder offenen Veränderungs- und Verbesserungsbereitschaft.

Kanonisierte Klassiker

Anders als die 2013 von Erwin Köstler konzipierte und nach der Herausgabe der ersten fünf Bände im Wieser Verlag abgebrochene ›Slowenische Bibliothek‹ geht es bei diesem Sammelwerk nicht um Erstübersetzungen von Autor·innen, die noch nicht ins Deutsche übersetzt worden sind. Die prachtvolle SLOW-Buchreihe versammelt kanonisierte Klassiker: jeweils mehrere Werke von oder über France Prešeren (2), Josip Jurčič (2), Ivan Cankar (3), Prežihov Voranc (5). Weiters zwei Bücher der deutschsprachigen Reiseschriftstellerin Alma M. Karlin (2), deren Reportagen uns mehr aus der Welt von gestern überliefern, als die vom kolonialistischen Blick verdorbenen Berichte ihrer österreichischen Vorläuferin Ida Pfeiffer.

Der Ex-Maoist Wieser ist im Verlegerleben klüger geworden und dabei ein politischer Mensch geblieben. Das äussert sich in zwei Bänden der Sammlung, die aus der Feder der 1997 verstorbenen Ex-Partisanin, Schauspielerin und Schriftstellerin Berta Bojeti stammen. ›Filio ni doma‹ (Filio ist nicht daheim) entrollt eine düstere sexualrepressive Dystopie. Ausserdem hat Wieser die aus dem Französischen übersetzte Biographie von Jože Javoršek wiederaufgelegt. Der ausgesprochen gewalttätige Inhalt von ›Gefährliche Erinnerungen‹ (2007) hat schon die Leserin Elfriede Jelinek entsetzt.

Die Zwischenräume der SLOW-Bände sind mit solider Essayistik gefüllt, mit Interviewbüchern, auch Lyrik scheint keineswegs unterrepräsentiert. Die Aufnahme von Sachbüchern in literarische Sammelwerke ist ein wirklicher Fortschritt der Gegenwart, nicht nur weil es die künstliche Trennung am Buchmarkt überwindet, sondern auch weil sie dazu auffordert, beim essayistischen Schreiben auf sprachliche Qualität zu achten und nicht bloss, wie der Salzburger Fälschungsjäger nahelegt, ob Gedankengänge plagiatisiert wurden.

Der scheidende Verlagsgründer hat seine Gedanken gleich mehrfach eingebaut in diese Bibliothek: Wieser serviert uns im Beiwerk die Verlagsgeschichte seiner Stehauf-Projekte, die dazugehörigen Lebensstationen, und ein gemeinsam mit Barbara Maier verfasstes Büchlein zur Schlemmerkunst darf ebenfalls nicht fehlen.

Da jedes Buch der neuen ›Slowenischen Bibliothek‹ auch einzeln erhältlich ist, beinhaltet es dasselbe Postscriptum und dieselben editorische Notizen mit der Aufforderung, doch weiterzulesen. Das wirkt im Gesamtziegel etwas mühsam. Wie empfänden wir das, wenn uns der Installateur nach der Montage jedes Waschbeckens eine Aufforderung zum Händewachen ans Porzellan heftet?

Offen für eine Fortsetzung

Warum, fragt man sich weiters, hat es keiner der gegenwärtig gehypten slowenischen Autoren und Autorinnen in Wiesers epochales Übersetzungswerk geschafft? Wieso fehlt die Riege jüngerer und jüngster Literatur aus dem Stammland der slowenischen Nation: Tomaž Šalamun, Maruša Krese, Mojca KumerdejAleš Šteger?

»Die liegen – Gottseidank! – ja vor«, erklärt Wieser, »in verschiedenen zeitgenössischen Ausgaben, quer über die deutschen Lande verteilt, die in letzter Zeit auch von anderen gemacht wurden«.

Das gilt nur für die Genannten. Von dem umfangreichen lyrischen Werk Veno Taufers, der auch Theaterstücke, Essays und Literaturkritiken verfasst hat, liegt kein einziges Buch in deutscher Übersetzung vor. Dasselbe gilt für den grossartigen, in Maribor wirkenden »Imaginisten« Andrej Brvar. – »Dutzende fehlen, ja und? Wo nicht?!«, meint Wieser.

Ohne Frage ist dem österreichischen Verleger eine Fortsetzung seiner Kanonisierungstätigkeit zu wünschen. Vielleicht wachsen den drei Schubern mit den »wichtigsten in slowenischer Sprache erschienen Werken der letzten hundert Jahre« ja in den nächsten Jahren noch weitere zu.

Über Gelungenes und Gültiges entscheiden ohnehin weder Autorinnen noch Übersetzer, weder Verleger noch Buchhandel, weder Kritik noch Komparatistik, weder Käufer noch Ignoranten. Über nachhaltig Gültiges entscheiden alleine wir: die Lesenden.

© Wolfgang Koch 2024

https://www.wieser-verlag.com/reihe/slowenische-bibliothek/

 

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