Das grösste Geschenk zu seinem 70. Geburtstag dürfte ihm ausgerechnet die verhasste US-Administration gemacht haben. Mathias Bröckers gehörte neben dem Politsatiriker Martin Sonneborn zu den wichtigsten öffentlichen Unterstützern des verfolgten und unter haarsträubenden Bedingungen inhaftierten Wikileaks-Gründers Julian Assange, der nun pünktlich zu dem Jubiläum freigelassen wurde.
Das zweitschönste Geschenk aber hat sich Bröckers gleich selbst gemacht: mit dem bei FiftyFifty erschienen 460-Seiten-Kompendium ›Inspiration – Konspiration – Evolution‹, in dem der erfolgsverwöhnte Autor seine zwanzig besten Texte aus den letzten 32 Jahren zum grossen Palver weltbewegender Fragen versammelt.
Gegen das Schönlügen
Das Medienunternehmen taz und Mathias Bröckers hätten sich gegenseitig eine Menge zu danken, wenn nicht so viele Jahre dazwischen stünden, in den sich die beiden Universen in verschiedene Richtungen ausgedehnt haben. Bröckers gehörte zu den Gründern der alternativen Tageszeitung und hat viele aufregende Jahre das Kulturressort verantwortet. Er stellte 1988 die »Schriftsteller-taz« unter Teilnahme von zwei späteren Literaturnobelpreisträgerinnen mit auf die Beine, er gewann das Enfant terrible des deutschen Kabaretts, Wolfgang Neuss, als Kolumnisten für die Satireseite, wozu er in dessen Berliner Kifferhöhle wöchentlich einmal mit dem Aufnahmegerät anrückte.
Bröckers publizierte den ersten Sammelband herausragender taz-Artikel, eine Fundgrube für jede innovative Journalist·in bis heute, und Bröckers initiierte und verantworte die Blogplattform des Mediums, lange bevor andere Printredaktionen etwas mit der Digitalkultur anzufangen wussten.
In der Gegenrichtung hätte Bröckers der taz seine unbändige schreiberische Neugier zu verdanken; die grenzenlose Freiheit in vernachlässigten Wisssenschaftsgebieten zu wildern, sich kampagnenartig für die Wiederentdeckung der Nutzplanze Hanf und für die Freigabe von Cannabis zum Genusskonsum einzusetzen. Ich betone: »hätte«, denn der Freigeist dankt seinen Ursprüngen nicht. Die taz ist für Bröckers heute »einem dumpfen und totalitären Woke- und Waffen-Kult anheimgefallen«.
Durch den Publizistenberuf seines Vaters einschlägig vorbelastet, hat dieses Schreibtalent spielend eine kurvenreiche Karriere hingelegt. Bröckers kann sich heute, von den Altmedien geächtet, bis zum Rufmord verunglimpft, weil er sich auf die Seite der Corona-Massnahmen-Skeptiker geschlagen hat, weil er dem Querdenkertum anhängt und offen dem russischen Narrativ zuspricht, durchaus auch ohne Mainstream vor einer lachenden Fangemeinde verbreitern.
Fantastisches Wissen
In der vorliegenden Neuerscheinung schickt der Verfasser seinen widerständigen Geist noch einmal auf Reisen durch den Weltraum der Seele, die Wunder des Bewusstseins und der Literatur, er erzählt von Bob Dylan und von der Paranoia des Schachspielers Bobby Fischer. Bereits 1999 nahm er die Erkenntnisse des Wasserforschers Viktor Schausberger bei Zweitausendeins unter die Lupe, die Computerrevolution in einem Vortrag 2006. Der Sammelband demonstriert eindrücklich, dass Bröckers in wenigen Jahren mehr Bewusstseinsantennen ausgefahren hat, als die hierarchische deutsche Öffentlichkeit verkraften konnte.
In Essays, Interviews und Glossen – alle in ihrer Originalversion – paradiert eine spannende Reihe von herausragenden Köpfen der Wissenschaften, der Literatur und der Politik vor uns. Die Evolution des souveränen Denkens beginnt mit dem Arzt und Alchemisten Paracelsus und macht dann über Goethe und dessen Farbenlehre einen Sprung mitten hinein in die aufregende Nachkriegsmoderne: US-Präsident John F. Kennedy, Verschwörungsanalytiker Robert Anton Wilson, Cannabis-Apostel Jack Herer, LSD-Entdecker Albert Hofmann, Biologe Rupert Sheldrake, Biophysiker Fritz A. Popp.
Enstirnigkeit der Gegner
Natürlich erspart uns Mathias Bröckers auch seine geopolitischen Theorien nicht. Im wesentlichen aber sind es die grossen und tiefen Fragen, auf die sich keine endgültigen Antworten finden lassen, mit denen sich seine Texte beschäftigen: »Was ist das Leben?«, »Lässt sich das Übernatürliche als rationales Faktum annehmen?«, »Schreitet die Wissenschaftsgeschichte in Wellenbewegungen voran?«
Es ist spannend noch einmal zu lesen, wie der Physiker und Chemiker Illya Prigogine an einem tröpfelndem Wasserhahn das wundersame Wirken der Selbstorganisation erklärt hat. Bröckers vollzieht humorvoll und attraktiv nach, wie der Mensch sich durch die Speichertechnologie der Sprache »zeitunabhängig« und mit diesem Informationsvorsprung allen anderen Lebewesen endgültig überlegen gemacht hat.
Immer wieder geht es um eine Definition des Lebens, und um den Geist der Natur in der Menschheitsgeschichte. Das Buch wäre natürlich kein Bröckers, wenn das Krude und Abwegige fehlte. Hat der Dichtergelehrte Goethe Allerheiligen 1768 wirklich ein UFO gesehen? Ist das Jahrhundertverbrechen des 11. September 2001 je restlos aufgeklärt worden?
Bröckers jüngstes Schreibidol ist der brasilianische Investigativ-Journalist Pepe Escobar, dessen geopolitische Kommentare ständig neue geheimnisvollen Verbindungen aus Schlapphüten, War-Lords, skrupellosen Wissenschaftlern und Konzernvorständen ans Licht der Öffentlichkeit zerren. Beide Grenzgänger der Publizistik betreiben mit ihren Clownerien eine Überbietungswettkampf in moralischer Selbstdarstellung. Sie schaukeln sich mit überspannten Ansichten gegenseitig hoch, nutzen ihren kognitiven Vorteil, etwas zu wissen, was die dominierenden Gruppen noch nicht wissen.
Escobar pendelt, wenn er nicht gerade unterwegs ist, zwischen São Paulo, Paris and Bangkok. Bröckers lebt in Zürich, Berlin und in der Lombardei. Escobar verabscheut »Globalistan«, Bröckers das etwas kleinere »Natostan« – beide schmieden Gegengemeinschaften von Fans der multipolaren Weltordnung mit Russland und China an der Spitze, und beide sind von Jugend auf Washington-Fresser. Ihr Ruf lautet: »Émile Zola, wach auf, sie sind verrückt geworden!«
Ohne Frage sind publizistischen Störungen dieser Art eine Quelle der Vitalität und des Glücks, oder wie die Franzosen sagen: »Oh rage, O Désespoir, O vieillesse!« (Oh Wut, oh Verzweiflung, oh Alter!). An dem intellektuellen und unterhaltsamen Wert des Kosmos der dabei berührten Gegenstände ändern die in Kauf genommenen Irrfahrten nichts. Was interessiert uns denn seit 2000 Jahren mehr als das Mysterium von Eleusis, das bestgehütete Geheimnis der Antike? … Können Tomaten träumen? … Können Pilze sprechen? … Hat die Natur ein Gedächtnis?
© Wolfgang Koch 2024