127 Tage nach dem Ableben von Günter Brus und 26 Tage vor dem Tod von Bill Viola öffnete in Wien eine Rosenknospe ihre Blätter. Die Blüte hätte diesen beiden Weltformat-Künstlern garantiert gefallen. Am 16. Juni versammelten sich sieben Personen in einem Raum, drei vor den Kameras, vier dahinter, um zwölf Minuten und dreissig Sekunden lang eine creepy Video-Performance zu realisieren, deren Ergebnis das Auge fesselt und Herz und Verstand anspricht.
Die 27jährige Künstlerin Kata Oelschlägel durchstach in der Aktion mit grossen Nähnadeln 14 Mal ihr Wangenfleisch, zog magentafarbenen Knopflochzwirn durch die Löcher und zurrte damit die in alle Richtungen gedehnte und gezerrte Wangenhaut an einem unsichtbaren Rahmen fest. Eine Kamera war auf das malträtierte Gesicht, zwei weitere Kameras auf zwei Personen im Profil gerichtet, welche das sadomasoschische Durchstechen mit unterschiedlichen Reaktionen beobachteten.
Es entstand an diesem Tag das Bildmaterial einer höchst seltsamen Zwangsphysiognomie. Der mimetische Ausdruck der Agierenden fror festgebunden ein, gefesselt wie der Reisende Lemuel Gulliver an Armen, Beinen und Haaren mit Schnüren am Boden der Insel Liliput. Oelschlägel cuttete die Aufnahmen auf fünf Minuten Länge und verzichtete dabei auf die dramatischen Momente, als drei ihrer Nadeln abbrachen. Nun präsentiert sie das Dokument auf drei Monitoren im Loop unter dem Werktitel ›Digital Triptych No. 1‹ als Gustostück ihrer bereits zweiten Soloausstellung in diesem Jahr.
Gefährliche Nadelspiele
Nadelspiele sind die seltensten aller BDSM-Praktiken und beim besten Willen keinem Laien zu empfehlen. Unter der Haut liegen in manchen Körperregionen lebenswichtige Nerven, Blutbahnen, Sehnen, Knochen und Gelenke, deren unbeabsichtige Schädigung zu einer irreparablen Gesundheitstörung führen kann. Der hochsensible Gesichtsnerv innerviert weite Teile des Kopfes.
In erotischen Nadelspielen erfahrene Domina-Studios, von denen es nur die allerwenigsten geben soll, verwenden als Fäden (zumeist am Hodensack) nicht absorbierende Seide oder abgepackten weissen Polyesterfaden, die unbedingt sterilisiert sein müssen. Kata Oelschlägel verzichtete auf solche Sicherheitsmassnahmen, versetzte sich mit einem Schluck Hochprozentigem in einen ausseralltäglichen Zustand und verspürte, nach eigenen Angaben, bei der ganzen Aktion keine Schmerzen.
Für Kunstinformierte ist ›Digital Triptych No. 1‹ leicht als Hommage auf die berühmte ›Zerreißprobe‹ zu erkennen, mit der der Wiener Aktionist und Weltsteirer Günter Brus 1970 im Münchner Aktionsraum I seine Brachialphase auf die Spitze getrieben und beendet hat, bevor er sich den sogenannten Bild-Dichtungen zuwandte. Brus überschritt damals seine eigene Grenze und die des Publikums. Der Österreicher schnitt sich mit einer Rasierklinge in Kopf, Brust und Beine, bemalte sich mit dem Blut und versuchte die Hautöffnungen wieder zusammen zu nähen.
Kata Oeschlägel führt in ›Digital Triptych No. 1‹ zentrale Elemente, die sie in den letzten Jahren ihrer gestalterischen Tätigkeit entwickelt hat, in verdichteter Weise zusammen. Seit ihrem Mädchensport Dressurreiten, in dem das Spurhalten wettbewerbsentscheidend, und ihrer stürmischen Jahren als Motorbikerin, in denen Strassenmarkierungen überlebenswichtig waren, gilt ihre ganze kreative Aufmerksamkeit der Linie.
Die Künstlerin unterscheidet die »verstärkende Linie« des Tatoos von der »natürlichen Linie« rinnenden Blutes sowie von der »invasiven Linie« des Einschnitts in Haut oder Leinwand. 2021 stellte sich mutig in die Tradition des Wiener Aktionismus, der den Körper zum wichtigsten künstlerischen Ausdrucksfeld gemacht hat, und liess sich eine bizarre Endlosschleife quer über den eigenen Korpus und die Glieder tätowieren.
Gruseleffekte wie im Prater
Ab dem Folgejahr, 2022, entstanden in der ›Hangman‹-Serie bislang vier skelettierten Figuren in farbenfrohen Kleidchen. Die erste präsentierte Oelschlägel in einer subversiven Aktion auf Hans Holleins ›Soravia Wing‹; sie liess das Skelett gespenstisch (und gespenstisch erfolgreich) von der Albertina-Rampe baumeln. Weitere dieser lustigen Monster spieen gefärbtes Wasser in Rauminstallationen.
Da war viel Prater-Gruseln mit dabei, Ironie, Bohème, und eine unbändige Lust am Totenkitsch der Sepulkralkultur. Es entstanden blendend weisse Skulls aus Thermoplaste, Gouachen in kinderzimmerfreundlichen Neonfarben und Malereien mit Ölfarbe und Blut. Zuletzt dann im Frühjahr die ›Hand Sewing‹-Serie, in der die Künstlerin im Kreuzstichmuster an der Innenfläche der eigenen und fremder Hände nähte. In der aktuellen Ausstellung der Barvinskyi Gallery zu sehen auf Fotoprints.
In der Video-dokumentierten Performance kehrte das Beste aus den vorausgehenden Produktionen wieder. Interpretationen sind in verschiedene Richtung möglich und der »postradikale Aktionskünstlerin« (Eigendefinition) natürlich alle willkommen: jene der Ästhetisierung des Leidens, jene der stellvertretenden Funktion des Opfers, aber auch jene der Distinktion des Künstlersubjekts von der als unfrei wahrgenommenen eigenen Natur.
Sich zur Aufrichtigkeit zwingen
Bekanntlich avanvierte die Leidensmythologie, nachdem sie im 19. Jahrhundert eine bis dato unbekannte Aktualität gewonnen hat, sukzessive zu einem tragenden Element der Selbstdefinition von Kulturschaffenden der Moderne. Im Geniekult um 1900 sollte die Leiderfahrung das Existenzgefühl vertiefen und die geistige Überwindung von Schmerzen den notwendigen Preis für das kontigente Dasein abstatten. Der Schmerz des modernen Künstlermärtyrers wurde Ursache und Wirkung, Bedingung und Folge des Schöpferischen zugleich.
Der Körper avancierte zum materialisierten Objekt, an welchem sich das Willenssubjekt durch den Versuch der Abgrenzung erprobt. Auch Brus vermeinte in dem Schmerz einen vertieften Zugang zur Wahrheit zu finden, doch für ihn musste der Schmerz für Künstler und Publikum real sein – erlebbar für ihn, erschütternd für uns. Die Handlung sollte wirklich im Raum geschehen und nicht auf einer Leinwand dargestellt werden.
Der damals 32jährige Künstler schnitt sich in München die Kleider vom schlanken Leib, fügte sich Schnitte am Oberschenkel und Hinterkopf zu, hakte an den Strumpfrändern entlang der Wunde Fäden ein und klaffte den »Schnitt« in der Kleidung so auseinander, wie Oelschlägel ein halbes Jahrhundert später ihre Wangenmuskulatur. Am Höhepunkt versuchte sich Staatsbürger Brus durch Auseinanderzerren der Beine anhand daran befestigter, durch den Raum gespannter Schnüre selbst zu zerreissen. Dabei geriert er in die Pose des Gekreuzigten.
Bilder von Frauen und Männern
Oelschlägel realisierte ein Gegenkonzept zu dieser männlichen Schmerztapferkeit. Auch sie ist im Juni an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gegangen. Doch nichts daran lief je Gefahr, symbolisch zu werden. Die strenge, zeichnerische Linie kehrte in den Verschnürungen von Backen-, Jochbeinmuskel und Mundwinkelheber wieder. Vor allem aber überwandte die Künstlerin in ihrem Setting die autoaggressive Selbstreferenzialität und erdete ihr Handeln auf den Boden sozialer Interaktion.
Die Dame, die auf dem Videomonitor links dabei zu sehen ist, wie sie dem simultanen Aktionsgeschehen folgt, könnte vom Alter her die Mutter der Künstlerin sein. Und nicht nur vom Alter! Auch ihr Ungerührtsein spiegelt haarklein die stoische Gelassenheit der Näherin beim Durchstechen der Wangen. Ihre Gesichtszüge wirken auf den ersten Blick seelenvoll und gefasst; doch sie wollen uns nichts über über ihre wahren Gefühle verraten.
Der junge Mann auf der rechten Tafel des Triptychons hingegen – er könnte der Lover oder der Ehemann der Protagonistin sein –, kann seine innere Unruhe bei dem, was er mitansehen muss, kaum verbergen. Mehrmals zuckt sein Augenringmuskel, die Lider blinzelt, Mikroexpressionen zeigen Anteilnahme, ja Mitleid. Man spürt seinen Wunsch, in die Selbstverletzung, die er beobachtet, einzugreifen.
Der Unterschied ist von hohem Gewicht. Die Mimik der Frauen erinnert nicht von ungefähr an das grosse professionelle Vermögen der Supermodels: eine sorgfältig sich selbst auslöschende Leere. In der Gesellschaft dürfen die Darstellerinnen der weiblichen Extraschönheit ja bekanntlich keine Gefühlsregungen zeigen. Models werden dafür bezahlt, nicht zu reagieren, egal wie viele Kränkungen und Affronts man ihnen zumutet.
Die weibliche Emotionskontrolle sagt uns natürlich mehr über männliche Ängste als über weibliches Begehren. Im Fashionbetrieb wird nur auf die Spitze getrieben, was alle Frauen gleichermassen betrifft. Für sie gibt es in allen Lebensbereichen mehr Regeln, die ihr Benehmen einschränken. Folglich ist es für die Frau auch – egal wie entschlossen sie sich geben mag – viel schwieriger, ein Individuum zu sein. Fällt sie exzentrisch auf, gilt sie beinahe schon als Künstlerin.
Hat sich nicht Andy Warhol in den Siebdrucken ›Jackie-Triptychon‹ und mit den Ikonen von Marilyn Monroe an der Fassade des weiblichen Gesicht abgearbeitet? An jenem Frauengesicht, das aus Schönheit besteht, aber nicht zuviel; aus Verstand, Glamour, aber keiner echten Macht und aus einem Anstrich von Modernität, die damals schon aus der Mode war? – So hat es die englische Publizistin Joan Smith in ihrer Analyse der Femmes totales (1997) formuliert.
Kata Oelschlägels künstlerische Selbstverletzungen knüpfen an grosse Werke und wichtige Beobachtungen an. Sie verbinden klug ästhetische Positionen und zeigen mehr Potential, als nach den ironischen Anfängen zu erwarten war.
Besonders das Video-Triptych der Ausstellung provoziert Einfühlung und Reflexion, vereint Zärtlichkeit und Stärke, die Bilder prägen sich ins Gedächtnis nein. Die Durchbohrung der mimischen Muskeln lässt sich lesen: a) feministisch, als eine Gegenperspektive zur männlich geprägten Gesellschaft, b) avangarde-historisch bis zurück zu den kuriosen Charakterköpfen von Franz Xaver Messerschmidt, c) als verdichteter Dialog mit dem Publikum durch unsere Repräsentation in den beobachtenden Personen.
Kann man von einer Aussenseiterin und Autodidaktin in der kunstbasierten Ökonomie mehr verlangen?
© Wolfgang Koch 2024
Abbildungen: Atelier Oelschlägel (3), Wolfgang Koch (4)
https://www.kataoelschlaegel.com/
https://www.barvinskyi.gallery/
Danke, der Beitrag war sehr aufschlussreich für mich. LG Monique