vonWolfgang Koch 05.12.2024

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

Mehr über diesen Blog

Noch werfen uns die Staaten nicht ins Gefängnis, noch können sich Kriegsgegner·innen in den EU-Ländern frei äussern. Doch die Drohung liegt bereits in der Luft. Einer der ersten auf der Liste der Verfolgten wird im nuklearen Winter der französische Historiker Emmanuel Todd sein.

Das führende Nato-Propagandablatt F.A.Z. erklärt diese Woche in einem Leitkommentar: »Wer angesichts des seit Jahren gezielt Zivilisten mordenden Moskauer Regimes dessen Sicherheitsinteressen anmahnt […], wie einst Helmut Schmidt, […] der hat eine blutige Vorstellung von Frieden«. – Wer hingegen den Willen aufbringt, der Nuklearmacht Russland militärisch zu trotzen, soll das heissen, der rettet in schmucker Strahlenschutzkleidung die »Freiheit in Europa«.

In Zeiten des Krieges und der brachialen Gewalt bleiben Humanität, zivilisatorischer Fortschritt und sachliche Intelligenz auf der Strecke. Dennoch bedarf es gerade in dieser Stunde der aufrechten Standfestigkeit jener, die sich nicht mit der scheinbaren Gesetzmässigkeit militärischer Logik abfinden wollen.

Niemand muss einverstanden sein mit den starken Thesen des Franzosen Emmanuel Todd zur kriegsverseuchten Gegenwart. Doch jeder Leser und jede Leserin seines neuen Werkes wird ihm umstandlos zugestehen, dass kein anderer Autor so kraftvoll flussaufwärts schwimmt wie er.

Todd ist zunächst einmal nur einer von vielen Untergangspropheten am Markt der Meinungen, Studien und Analysen. Auch er bedient den Weltkampfmythos, in dem sich die politischen und gesellschaftlichen Kräfte als Vertreter von Kosmos und Chaos gegenüberstehen. Da ist immer Vorsicht angebracht! Spekulationen liegen in der Luft. Alte Männer verwechseln notorisch das eigene biologische Ende mit dem Ende der Menschheitsgeschichte.

Das tote Projekt Europa

Nach Todds Ansicht ist die Welt weder statisch noch disruptiven Störungen unterworfen. Schon jetzt bewegt sie sich durch unaufhörliche Konflikte auf einen unlösbaren Zustand zu. Wir Europäer und Europäerinnen leben seiner Beobachtung nach in einer falschen Erwartung. Das Projekt Europa, erklärt Tod in seinem neuen Reader, war nach dem Brexit mausetot.

»Ein Gefühl soziologischer und historischer Leere hat unsere Elite und unsere Mittelschicht beschlichen. In dieser Situation wirkte die russische Attacke gegen die Ukraine fast wie ein Glücksfall. Die Leitartikel der Medien machten daraus kaum einen Hehl: Putin gab der europäischen Konstruktion mit seiner ›militärischen Spezialoperation‹ wieder Sinn; die EU brauchte einen äusseren Feind, um neu zusammengeschweisst zu werden und wieder in Gang zu kommen. Diese optimistische Rhetorik verbarg eine dunklere Wahrheit. Die EU ist ein unkontrollierbares und buchstäblich irreparables Kraftwerk«.

Todd gelangt im dritten europäischen Kriegsjahr zur Auffassung, dass die Ukraine als Staat Selbstmord  begeht. Sämtliche EU-Mitglieder, inklusive dem neutralen Österreich, stehen in dem Konflikt auf der falschen Seite, nämlich auf der Seite militärischer Eskalation ohne Endgame, die Diplomatie und Konfliktlösung verhindert. Ist denn die massive militärische Unterstützung des Westens für die kriegerische Selbstverteidigung, ohne die sie nicht möglich wäre, angesichts ihrer Konsequenzen und Alternativen noch zu rechtfertigen? Oder produziert sie nicht längst ein grösseres Übel, das wir nicht akzeptieren sollten?

Gibt es noch Wahrheiten?

In Todds Einlassungen finden sich merkwürdige Seitenhiebe auf dieses und jenes. Dass die Russische Förderation anfangs mit nur 100.000 Mann in die Ukraine eingerückt ist, will er als Wohlwollen des Feindes mit dem drangsalierten Brudervolk interpretiert sehen. Solche gelegentlichen Bizarrerien ändern nichts an Todds klaren Blick auf zentrale geopolitische und weltwirtschaftliche Zusammenhänge.

»Als Wissenschaftler fällt es mir sehr schwer, die beiden Paare gut–böse und wahr–falsch zu unterscheiden; in meinen Augen gehen diese beiden konzeptuellen Paare ineinander über«, sagt der Autor an einer Stelle. Hier hätte Thomas Hobbes Todd aus der Verlegenheit helfen können, der 1651 richtig festgehalten hat: »Gut nennt der Mensch jedweden Gegenstand seiner Neigung, böse aber alles, was er verabscheut […] Es müssen die Ausdrücke nur mit Bezug auf den, der sie gebraucht, verstanden werden; denn nichts ist durch sich selbst gut, böse oder schlecht […] Wahr und falsch sind nicht Eigenschaften der Dinge, sondern der Rede«.

Gut–böse und wahr–falsch sind demnach beides sprachliche Formeln, – doch im ersten Fall, und das ist wesentlich, um die innere Bewegungen, Leidenschaften genannt, auszudrücken, im zweiten Fall aber, um objektiv Wahrgenommenes und Gedachtens, kollektiv Geteiltes, durch Autorität öffentlich Bestätigtes zu artikulieren. Diese beiden Paare gehen für den scharfen Verstand keineswegs ineinander über.

Verblüffende Thesen

Was ich an Todds Analysen schätze, sind viele kraftvolle und mit spannenden Fakten untermauerte Thesen zu einzelnen Erscheinungen von Vergangenheit und Gegenwart. Zum Beispiel sein Blick auf die 1950er-Jahre. Er entwickelt dabei einen eigenen Jargon. Todd nennt Karteichristen, die nicht zur Kirche gehen, jedoch immer noch zahlen, »Zombiechristen«. Unter Nihilismus versteht er 1. die physische Dimension, das heisst den Trieb, Dinge und Menschen zu zerstören, und 2. einen zersetzten Begriff der Wahrheit, der jede vernünftige Beschreibung der Welt verbietet.

Zitat: »Nach dem Zweiten Weltkrieg durchlief die gesamte westliche Welt eine leichte Rückkehr zum Religiösen, die ein weitaus massiveres Wiederaufblühen des katholischen und protestantischen Zombiechristentums vertuschte, das heisst Werte des Anstands und des Konformismus, die sich, losgelöst von jedweder religiösen Praxis, aus der Religion entwickelten. Die Schockwellen des nationalsozialistischen Nihilismus breiteten sich in der Tiefe aus. Die entwickelte Welt kam wieder zu Atem. Es ist die Epoche, in der ein maximaler familiärer Konformismus blühte, der die Grundlage für den Baby-Boom bildete. Diese Wiederbelebung der Fruchtbarkeit stützte sich auf eine besonders klare Rollenaufteilung von Männern und Frauen. Neben oder oberhalb des familiären Konformismus wurde der Welfare State, der Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit, zur ultimativen Verkörperung des Zombiechristentums, seine Apotheose«.

Nihilismus im Vormarsch

Den Niedergang der englischen Arbeiterklasse vor Augen, stellt Todd die Frage, ob die in Grossbritannien zur Schau gestellte Bevorzugung von Minoritäten (affirmative action) nicht über die guten Gefühle hinaus »eine Rache der oberen englischen Mittelschicht an ihrem Plebs« ist.

An den heutigen Vereinigten Staaten diagnostiziert Todd, dass sie einfach kein Nationalstaat mehr sind. Das »Land of the free« habe seine Führungsschicht sowie seine Fähigkeit, eine Richtung beizubehalten, zerstört. »Um 2015 erreichte es das, was ich einen Nullzustand genannt habe. Dieser Begriff meint nicht, dass das Land nicht mehr existiert oder nichts mehr produziert, aber es wird nicht mehr durch seine ursprünglichen, nämlich protestantischen Werte strukturiert: Sowohl die Moral als auch die Arbeitsethik und das Verantwortungsgefühl, die einst die Bevölkerung antrieben, sind verschwunden. Die Wahl von Trump, dem Champion des Vulgären, und die von Biden, dem Champion der Senilität, waren die Apotheose dieses Nullzustands«.

Was die geostrategische Weltlage betrifft, erinnert Todd noch einmal an die Angst des einflussreichen US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzeziński, nach dem Fall des Kommunismus könnten Deutschland, Russland und Japan zusammenrücken und den US-Einfluss auf Europas Sicherheitsarchitektur überflüssig machen. »Da Russland im Begriff war, einzubrechen, schlug [Brzeziński] vor, man könne nachhelfen, indem man ihm die Ukraine entreissen würde, eine Amputation, die Russland für immer seines imperialen Status berauben würde. Wenn aber der Ukrainekrieg schliesslich dazu führt, dass das amerikanische Imperium zerfällt, dann würde Zbigniew Brzeziński als der grösste unfreiwillige Humorist aller Zeiten in die Geschichte der Geopolitik eingehen«.

Todd stimmt nicht in den allgemeinen Chor der Dämonierung Putins und der Russischen Föderation ein, er streicht vielmehr die wenig beachteten Seiten des Regimes heraus. Etwa: »Russland weiss, dass seine homophobe Antitransgender-Politik andere Länder des Planeten keineswegs abstösst, sondern viele von ihnen anzieht. Diese Strategie verleiht ihm beachtliche Soft Power. Die revolutionäre Soft Power des Kommunismus wurde von der konservativen Soft Power der Putin-Ära abgelöst.«

Flucht der klugen Köpfe

Besonders interessant finde ich Todds These, dass die Vermehrung der Akademiker in den westlichen Gesellschaften inzwischen eine Vermehrung von Parasiten erschafft. »Sollte der französische Leser sich Angst einjagen wollen und sich fragen, warum sein Land verarmt, braucht er, anstatt gegen Beamte oder Einwanderer zu wettern, nur einmal über die Zahl der Studierenden an den Schulen für Handel, Verwaltung, Rechnungswesen und Vertrieb nachzudenken, deren Zahl von 16.000 im Jahr 1980 auf 239.000 in 2021/22 gestiegen ist«.

Todd beklagt die Massenflucht unserer klugen Köpfe in unproduktive Berufe. Die Jugend wolle nur mehr der Geldschöpfung und damit der Quelle der Opulenz näherrücken. Warum soll man noch ein schwieriges wissenschaftliches oder technisches Studium auf sich nehmen, wenn man als Banker, Steueranwalt oder Lobbyist im Dienst der Bank so viel mehr verdient? – »Man zieht es vor, ein Jura-, Finanz- oder Handelsstudium aufzunehmen, denn durch diese rückt man näher heran an die heiligen Quellen, aus denen der Dollar sprudelt.«

Das Elend der Experten

Todd diskutiert keine binären Imperialismus-Theorien. Über dieses Niveau gehen seine Tiefenbohrungen in der gegenwärtigen Weltgesellschaft weit hinaus. Doch er fragt beharrlich, woher die militärische Machtbessenheit der US-Nation kommt? Und seine Antwort lautet schlicht und einfach: Dass die internationalen Konflikte sich aufheizen, liegt am beruflichen Interesse bestimmter Bildungseliten!

»Staatsapparate existieren in den USA dort, wo Armee, Marine, Luftwaffe, CIA und NSA als gigantische, kalte Maschinen erscheinen. Doch bevölkert werden sie von Individuen, die sich im Wesentlichen an das hierarchische Prinzip halten. Diese Bürokratiemonster werden geritten von der kleinen Clique Halbintellektueller, die den Blob bewohnen, ein Binnendorf von Washington«.

Die ambitionierte US-Politik sei gefangen im »Internationalen«. Das mache den perversen Effekt aus, dass sie durch und durch anfällig sei für Aktivismus. – »Je mehr sich die amerikanische Regierung mit Aussenpolitik befasst und je mehr Stellen es für Experten internationaler Politik zu besetzen gibt, desto mehr nationales Vermögen wird für die Lösung dieser globalen Probleme aufgewendet, und desto grösser ist ihr potenzieller Einfluss.«

Aus diesem Umstand entstehe zum einen die Neigung, Bedrohungen aufzublasen, und zum anderen jene militärische Machtbesessenheit, unter der heute der ganze Planet leidet. Ähnlich scharf urteilt der Sozialanthropologe und Paradeintellektuelle über das Modethema Postkolonialismus. Die Emanzipation der Schwarzen in den USA, so Todds, sei anfangs eine moralische Notwendigkeit gewesen, um dem kommunistischen Universalismus zu trotzen. Nun aber erleben wir in Europa und den Vereinigten Staaten einen grossen Moment subjektiver moralischer Überlegenheit.

»Und doch ist eines der historiografischen Modethemen heute die Sklaverei, die von Europäern und Amerikanern schändlicherweise im grossen Massstab vom 18. bis ins 19. Jahrhundert betrieben wurde, eine Gräueltat, für die wir bezahlen müssen. Ja, es war eine Gräueltat, und ja, wir müssen dafür bezahlen. Dennoch ist es fast surreal zu sehen, wie dieses Thema sich ausweitet und verbreitet, während man parallel dazu erlebt, wie das Gefühl wieder auflebt, dass der Westen eine moralische Überlegenheit besässe. Dieses Paradoxon lässt sich lösen: Unsere moralische Überlegenheit ist so gross, dass sie uns erlaubt, uns auch selbst zu kritisieren. Nur unsere Reue zählt. Was die übrige Menschheit betrifft, so hat sie in unseren Augen niemals wirklich existiert«.

Todds Studien argumentiert ausufernd mit Zahlen, Daten und Fakten. Doch es ist dieses besondere Gespür für die Volten des Zeitgeists, die Dekadenz der Intelligenz, die seine Beobachtungen wertvoll machen.

Vorletztes Beispiel: »Genau wie ein Mann zur Frau werden kann, so kann ein Atomabkommen mit dem Iran (Obama) sich von heute auf morgen in eine verschärfte Sanktionsregelung umwandeln (Trump)«.

Letztes Beispiel, mit weihnachtlichem Hoffungsschimmer: »In Frankreich gibt es ein Gegengewicht zum Nihilismus, weil gut die Hälfte seiner Vororte komplexe Familienstrukturen aufweist (Stammfamilien, kommunitäre Familien und andere)«.

© Wolfgang Koch 2024

Emmanuel Todd: Der Westen im Niedergang, 352 Seiten, Westend, ISBN 9783864894695, 28,- EUR

 

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/wienblog/2024/12/05/pflichtlektuere-fuer-die-europaeischen-kriegsregierungen/

aktuell auf taz.de

kommentare

  • Ein weißer französischer Intellektueller beschwert sich darüber, das gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit „zu viel“ Gewicht in den Diskursen hat. Und ein (mutmaßlich) älterer weißer österreichischer Blogger applaudiert. Ich bin klüger als ihr alle …

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert