Der kryptokonservative Wiener Castrum Verlag, der sich in Versalien mit »V«, in Gross- und Kleinschreibung aber mit »u« schreibt, hat nach der Einverleibung der Edition Acéphal und dem Philosophenroman ›corvus albus‹ des Dandys Jan Juhani Steinmann eine weitere Überraschung zu bieten. Unter dem Titel ›Sichtungen‹ legt die in Wien lebende Deutsche Hendrikje Margareta Machate mit der Kaltnadel radierte Aphorismen vor.
Das ist in mehrfacher Hinsicht erstaunlich. Aphorismen pressen Sinn in wenige Worte, fallen im gelungenen Fall anregend aus wie ein Destillat. Die kurzen Sentenzen spielen mit Lebensregeln, vorwiegend moralischer Natur. Aphorismen – das bedeutet knappe Formulierungen, Gedanken von atomischer Natur, die sich zu einem Mosaik auslegen lassen. Aphorismen bieten Meisterstücke des Sarkasmus, der bitteren Beobachtung, der scharfen Pointe. Um sie zu verfassen, bedarf es einiger Lebenserfahrung, und darum gehören sie gewöhnlich zum Alterswerk von Schriftsteller·innen.
Hendrikje Margareta Machate ist 33 Jahre alt. Sie erweitert den Reichtum unserer literarischen Landschaft also alleine schon durch die Wahl dieser Form. Aphorismen sind für diese Autorin nicht weniger als »(Ver-)Dichtung in der Wissenschaft«. Mit einer Wissenschaft, die aus Aphorismen besteht, hat es aber nach ihrer Ansicht noch Zeit.
»Der Mensch wurde nicht für den Schreibtisch geboren, wenn schon eher noch zum Holzfällen«, versichert Machate. – Mag sein; Holzfällen ist allerdings die vernünftigste Grundlage dafür, einen Schreibtisch zu zimmern.
Wir fragen uns: Haben wir es bei dieser ungewöhnlichen literarischen Produktion mit der naturhaften Intelligenz eines einfachen Wesens zu tun, das von einem hohen Ideal erfüllt ist? Oder nur mir einer unzeitgerechten Epigonin des paradereaktionären Nicolás Gómez Dávila?
Das ist auf den ersten Blick gar nicht so leicht auszumachen. Bei der Lektüre lässt sich nicht sofort sagen, ob Machate gegen die Sicherheit einer bürgerlichen Existenz dem eigenen Lebensimpuls folgt oder nicht. Ist ihre Stilistik bloss Maske und Paraphrase? Folgt der Blick einer weltunerprobten Perspektive?
Die literarische Qualität der Miniaturen ist jedenfalls divers. Einzelne Sätze und Sentenzen gleichen Spruchweisheiten, andere scheinen auf den Punkt als Stillleben geschrieben zu sein. Knackfrische Zutaten, fangfrische Meerefrüchte darf man nicht erwarten. Machate schreibt nicht für Foodies. Liebhaber woker Literatur bitte unbedingt noch zwei Strassen weiter.
Tatsächlich zeigen die Minaturen der Autorin häufig die charakteristische Schreibweise von Alterwerken: eine Ästhetik der kleinen Form, gediegene Metaphorik, von Lektüre gestähltes kulturelles Wissens, vom Gebet genährter Fundus religiösen Ausdrucks, dazu eine ausgeprägte Wokeness-Idiosynkrasie, die sich mit einem nostalgischen Ton verschränkt.
Was für ein Katholizismus?
Inhaltlich kennt Machate die Passworte der traditionellen Ordnung – also Liebe, Glauben, Treue, Verortung –, andere Signale – wie Ehre, Tapferkeit, Loyalität, Nation – kennt sie nicht. Im ersten Kapitel breitet sie ihren ›Gotteswahn‹ aus. »Als ich vernünftig wurde, begann ich zu glauben«, heisst es da, zehn Seiten weiter dann aber auch, dass sie sich zum tieferen Glauben bewogen fühlte, um sich Menschen vom Leib zu halten.
Für Machate ist es gerade die Leiblichkeit, die uns gottesebenbildlich macht. – Ein schöner Gedanke, aber hat er denn auch den kranken, hinfälligen, versehrten Körper vor Augen? Aber gewiss doch, würde sie wahrscheinlich antworten, den gemarterten Leib Christi am Kruzifix.
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»Unser Mangel im Denken ist Folge der Erbsünde, nicht unserer Leiblichkeit.«
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»Für das Leben wird man heilig, nicht für das Werk.«
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»Der Zufall ist Gottes Kontingenz plus unser Wille«.
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Schon Carl Schmitt rang um »die katholische Verschärfung gegen die Neutralisierer, die ästhetischen Schlaraffen, gegen Fruchtabtreiber, Leichenverbrenner und Pazifisten«. Der umstrittene deutsche Staatsrechtler und Theologe ist neben dem spätmittelalterlichen Humanisten Nikolaus von Kues (Cusanus), dessen Erkenntniswege die Autorin ausgezeichnet versteht, sowie dem österreichischen Novellisten Stephan Zweig der dritte Stichwortgeber in diesem Werk.
Unter der Kuppel des Petersdoms haben im 20. Jahrhunderts zahlreiche Literat·innen Salto mortale geschlagen: die Autor·innen der Renouveau catholique, aber auch der portugiesische Saudismo-Mystiker Teixeira de Pascoaes oder der erotische Abbé Franz Blei. In welchem Fahrwasser bewegt sich unsere streitbare Katholikin? Was fasziniert sie am Glauben?
Ihre Antwort: Die ständige Begleitung durch das Nicht-Sagbare. – Ist Machate aufgrund einer ästhetischen oder einer romantischen Erschütterung zu dieser Ansicht gelangt? Weder noch. Sie sieht ihr Christentum in der Tradition begründet, die sie als lebendiges Weitergeben versteht. Die »Gemeinschaft der Heilgen« bedeutet für sie in eine Familie eintreten, an einer freudlichen Verwandschaft teilhaben.
Auf Instagram gibt ein Foto mehr Auskunft als die Texte. Dort postet Machate unter marguery_juggernaut eine Aufnahme der gedruckten Autobiographie von Pater Gabriele Amorth (1925-2016). Der Exorzist der Diözese Rom, der in der Heiligen Stadt nicht weniger als 100 satanische Sekten aufgespürt haben will, betrachtete die Europäer·innen »als ein Volk von getauften Heiden. Scheidung, Abtreibung, Auflösung der Familien: eine Katastrophe«.
Die Amorth-Lektüre der Autorin passt ausgezeichnet ins Bild, das sich langsam zusammen setzt. Hat Emmy Hennings nicht wiederholt versichert, das Lieblingsthema des Konvertiten Hugo Ball sei ›Exozismus und Psychoanalyse‹ gewesen?
Feminismus vs. Antifeminismus
Das zweite Kapitel, ›Kontergarde‹, versammelt Aphorismen zur Geschlechterfrage und das Bekenntnis zu einer verwehten Menschheitsepoche. »Erfüllung« ist eines der Zauberwörter von Machate. Es steht bei ihr dort, wo in den Werken anderer, früherer Stimmen »Vollendung« steht.
Um uns zu erfüllen, leben wir, an Erfüllung sterben wir. Entsprechend beklagenswert sei der Zustand der »denaturierte Mutter« und der Feminismus, der »alle weiblichen Privilegien abschaffen« wolle. »Das letzte irdische Paradies, der Mutterleib, ist heute zu einem der gefährlichsten Orte geworden«. Frauen sollen Geschöpf spielen, Objekt des männlichen Willens.
Während der in der rechten Stammleser-Ecke konkurrierende Karolinger Verlag die misogyne Nachlassschrift ›Pornokratie‹ des französischen Anarchisten Pierre-Joseph Proudhon feilbietet, sich also mit der abwegigsten Begründung von Frauenfeindlichkeit herumschlägt, wünscht sich Hendrikje Margareta Machate elegante Männlichkeit zurück. Männlichkeit auch im Kriege. »Die Verweiblichung des Krieges hat ihn zu sinnloser Grausamkeit verkommen lassen«.
Allerdings gelingt es Machate nicht, diesen Antifeminismus konsequent durchzuhalten. Wenn sie etwa beobachtet, dass Frauen quasi ständig im Begriff sind zu fragen: »Muss ich erst deutlich werden?«, nimmt, ob sie will oder nicht, eine klare frauenrechtliche Position ein.
Ich habe als Mann keine Berechtigung, Frauen einen Emanzipationskurs vorzuschlagen. Doch als Teilnehmer geisteswissenschafter Debatten erlaube ich mir darauf aufmerksam zu machen, dass frau nicht gleich mit der Selbstermächtigung ihres Geschlechts brechen muss, wenn sie mit der Haupt- oder Modeströmung der Frauenbewegung nicht einverstanden ist. Wer den Queer-Egalitarismus ablehnt, muss deshalb nicht antifeministisch glänzen.
Es gibt mit der Philosophinnengruppe Diotima an der Universität Verona seit Mitte der 1980er-Jahre auch einen klugen Ansatz des Denkens der Geschlechterdifferenz und der Politik, der den Gendergap gerade nicht nivellliert, sondern im Unterschied zwischen Frau und Mann die Quelle von Kreativität, Sexual- und Sozialleben erkennt.
Über die Methode
Aphorismen sind Haltungsdestillate am spiegelglatten Parkett. Machate dürfte bei gesellschaftspolitischen Fragen vor allem ihre Methode am Gleichgewicht behindern. Unter Sehen lernen versteht sie ein »inneres Schauen«, damit »Wahrheit gleichsam zu einem Gefühl« wird. »Was uns gewiss ist, schauen wir; jedes Argument dazu ist nachträglich.«
Damit korresponiert ein starker Vorbehalt gegen Bewusstseinsarbeit. »Je bewusster wir uns sind, desto mehr fehlt uns«, ist zu lesen. Vernunft gibt es in Machates Augen nur eine, und die ist unabhängig vom Grad unserer Intelligenz. Selbst das Verstehen von Mathematik sei im Idealzustand ein Fühlen.
»Was die Organik einbüsst, verliert mein Vertrauen.« Allein die Kunst können »das übergreifende Organeon sein, in dem der Irrationalismus als Rationalität in Erscheinung tritt.« – Es ist die Ästhetik eines nichtdiskursiven Wissens, die hier durchschlägt, die Befreiung vom Zwang, immer die Wahrheit zu suchen.
»Die Wissenschaft hat sich in der Philosophie breit gemacht statt umgekehrt.« Wissenschaft und Lebensmittelerzeugung seien zu schnell geworden, um uns noch gut zu tun. Überhaupt die Unruhe der Welt! – »Die Zivilisation darf nicht schneller wachsen als die Kultur«, und: »Die Kunst ist stets wahrer als die Wissenschaft«.
Aufbruch in das Mittelalter
Kultur ist bei Machate grundsätzlich positiv, (als ob es nicht auch Kulturen der Grausamkeit, der Lüge und der Fresssucht gäbe), ihre Rede vom ewigen Wesen der Dinge essentialistisch. Dass die Naturwissenschaften zum Zweck der Erleichterung der menschlichen Mühsal benutzt werden, stürzt keineswegs als »etwas extrem Neuzeitliches« auf uns. Die Griechen betrieben die Naturwissenschaften genauso wenig, »um ihre Götter zu loben«, wie dies das Mittelalter getan hat. Der Brunnenbau und die Schifffahrt der Griechen, um nur zwei Beispiel zu nennen, beruhten auf reinem Sachwissen, auf neutraler und magiefreier Technik, deren einzige Rechtfertigung in ihrer Wirkung lag.
Machates Kulturkritik ist in ihrer Belesenheit fundierter. Sie mischt zum grundsätzlich überdrüssigen Habitus (»Ein ehrenhafter Mensch muss ein immerwährender Abtrünniger sein«) einen Klagegestus, ohne sarkastisch zu werden; sie verströmt verschwendisch Pessimismus, argumentiert die Liebe zur Orthaftigkeit, und sie liebt den Künstler mehr als die Kunst.
Das heutige Europa gilt ihr als seiner Identität beraubt (»Armes Abendland!«). Moralisch gut erscheinen Schmerz, Bücher, Genies, Orte, Langsamkeit, die Musse, aus der eigenen Zeit fallen, schliesslich Unsichtbares, Kontingenzbewusstsein und Schweigen. Böse erscheinen der Autorin: ungenierte Promiskuität, menschliche Zerrissenheit, Optimierungswahn, die Arroganz der Intellektuellen, Veganismus.
Heldentum gibt es vergleichsweise billig. Es genügt schon, wenn man sich nicht umbringt. Der Tugendkatalog enthält Opferbereitschaft, Sinnsuche, Verfeinerung des Gefühls. Tolerant könne sich nur geben, wer eigenen Wert besitze. Summa summarum erscheint die Ordnung in der Einzelperson als die Grundlage aller Ordnungen.
Machate glaubt an die Möglichkeit eines Anderswo, und dieses Anderswo heisst Neues Mittelalter. In der politischen Einheit »die vielleicht grösste Häresie der Neuzeit« zu erkennen, zeugt von einem gewagten Geschichtsbild. Was feiert Machate am Mittelalter? Die personale Herrschaft, die damals zählte, die »organische Kultur« der Privatrechtsgesellschaft, tugendhafte und christliche Männer, die Frauen beschützten, den Frieden des Burggartens. Je mehr sie die Neuzeit verachtet, denkt sie, desto mehr muss sie das Vorgestern lieben. »Wenn alle Unlichter wieder verloschen sind, läuten Tinte und Papier das neue Mittelalter ein«.
Bei Wahlen empfieht Machate Enthaltung. Das politische Hufeisen ist ihr da wie dort zuwider. »Die Linke scheitert an der Naturhaftigkeit des Menschen; die Rechte scheitert an der Abstraktionsfähigkeit des Menschen«. Näheres erfahren wir nicht über die teuflische Natur der Politik. Das Bedürfnis nach Selbstmystifizierung dominiert. Ironie und Selbstironie bleiben dieser Gedankensammlung unbekannt.
Dienst an der Sprache
Im letzten Abschnitt, den ›Miscellanea‹, erfahren wir, warum diese Frau sich aufs offene Meer hinaus wagt. Sie fühlt sich berufen zu schreiben, 1. um ihr Erleben zu intensivieren und zu konservieren, 2. um heilsam zu dissoziieren, 3. um eine offene Einladung an die Leserschaft auszusprechen. Das ist nachvollziehbar und sollte nicht durch Beifall erledigt werden.
Eine gedankliches Crescendo gibt es in der Sammlung nicht, was ihr ausgesprochen gut bekommt. Schliesslich sind wir der verflachten Meinungen und ausufernden Theorien müde. Lieber weniger und fragmenthaft als vielwissend. Zum Abschluss ein Handvoll Meditationen, von denen ich jede einzelne dreifach unterschreibe:
»Es ist das, was jemanden interessiert, was ihn interessant macht. Es ist das, was jemand liebt, was ihn liebenswert macht.«
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»Die Intensitität des Erlebens, welches allein durch Buchstaben oder Gedanken erzeugt wird, ist nicht jedem gegeben.«
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»Manche Bücher inspirieren einen schon allein durch ihre Anwesenheit.«
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»Sein Leben vom Zufall ausgestalten lassen – die Höchstform ästhetischer Existenz.«
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»Bevor du jemanden gelesen hast, kennst du ihn nicht.«
© Wolfgang Koch 2024
Hendrikje Margareta Machate: Sichtungen. Aphorismen, 128 Seiten, in Leinen geb. m. Schutzumschlag, 25 €, ISBN 978-3-9505469-7-2