DIENSTAG, 19. MÄRZ
Josef von Nazaret
In dem Land, aus dem ich komme, freskierten die christianisierten Karantanen slawischer und bajuwarischer Zunge ihre romanischen Wehrkirchen an der Aussenwand mit einem riesenhaften Christophus, der auf seinen breiten Schultern, gestützt auf den Wanderstab, das Jesuskind über einen Fluss trägt.
Der Fluss lässt sich auf dem Friedhof um den Kirchenbau herum wie der Fluss Lethe in der Unterwelt der griechischen Mythologie verstehen: als ultimative Grenze, an der du alles hinter dir lässt, alles vergisst, weil alles vergeht und schliesslich mit dir vergangen sein wird.
Der freundliche Goliath und seine tastenden Schritte im Wasser erscheinen als grosse Metapher für das Lebensende, genauer: den guten Tod, für den die Alten Stossgebete zum Himmel schickten. In der Figur des Christophorus, dessen Name heute als Flugrettungsverein im kollektiven Gedächtnis verankert ist, kam einst die Wahrheit des Todes und der Wunsch nach einem schmerzlosen Ende zu dem Bild, das jeder Sterbliche auf Anhieb verstand.
Josef von Nazaret ist der zweite Patron im römisch-katholischen Heiligenkosmos, der den Dahinscheidenden seinen Trost anbietet. Der Adoptivvater des Heilands hat über die Abschiedlichkeit hinaus auch noch den Vorteil, dass er über die Unehelichen, die Bastarde, die illegitimen Nachkommen seinen Mantel breitet. So unmittelbar wie dieser Krippenfinder hat sonst kein christlicher Heiliger Alpha und Omega der Existenz im Programm.
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SONNTAG, 13. April
Ekajaṭi, Blaue Tārā
An diesem Tag beginnt eine dreitägige Feier nach dem bhutanischen Kalender zu Ehren der Blauen Tārā, die in verschieden Kontexten Asiens auch Wilde Tārā, Ekajaṭi oder Machandi genannt wird. Immer ist sie eine blauhäutige exotische Schönheit. Für ihre Follower stammt sie nicht von dieser Erde, kennt aber den Ort, an dem die Menschen zuerst das Licht der Welt erblickten.
Ich gehöre zu jenen Adepten des Buddha-Dharma, die ihn nicht für eine Religion, sondern für eine Psychologie der Praxis halten. Einer meiner Lehrer studierte den rechten Pfad umgeben von Schlangen in einer Dschungelhütte im Süden Sri Lankas, der andere war ein Haiku-Dichter mit einem veritablen Alkoholproblem und kehrte den Boden eines japanischen Inselklosters. Dennoch habe ich dem Himalaya-Buddhismus, der sich seit der Weltausstellung in Chicago 1893 als der kleinste Ast am Baum der Weltreligionen verstehen, diese mächtige Gestalt zur Zuflucht entnommen.
Die Orthodoxie sagt: Die Blaue Tārā hat bereits eine so hohe Entwicklungsstufe erreicht, dass es jenseits der Vorstellungskraft von uns Erdenwürmern liegt. Mein Herz eroberte sie mit einer Reihe verblüffenden Eigenschaften: die Frau mit der Schädelschale besitzt ein wildes weibliches Mitgefühl, und als Hüterin des fallengelassenen Textes schützt sie das Fragment, also das unfertige und geheime Wort.
Anders als Bhaisajyaguru, der Medizinbuddha (er hat ebenfalls einen blauen Körper), ist diese Göttin des tibeto-buddhistischen Pantheons auch die Transmutation von Barschheit, Wut und Zorn. Ekajaṭi ist aufbrausend und ungeduldig, das heisst, sie symbolisiert die Umwandlung von Wut in positive Energie, sie hilft mit ihren vier bis 24 Armen beim Überwinden von Hindernissen, beim Meistern von Herausforderungen.
Ekajaṭi führt einen Vajra-Dolch aus Saphirkristall in ihrer rechten Hand, um alle Energien zu durchbohren, die sich der Befreiung von Karma und Samsara widersetzen. In ihrer linken Hand hält sie die Schale, die mit lapisblauem Amrta oder Elixier gefüllt ist, um die Wesen von allen Krankheiten und Leiden zu heilen. Mächtig und furchtbar wie der Fürst bei Machiavelli ist sie. Mit Wölfen und Hunden verbunden wie Tanit wandert sie umher. Mit ihrer dynamischen Haltung strahlt sie Kraft aus. Sie assistiert der Grünen Tārā.
SONNTAG, 4. Mai
Peregrinus Laziosi
Mönch des Servitenordens aus Forlì in der Emilia-Romagna. Er pilgerte vor 600 Jahren so eifrig zu Fuss am italienischen Stiefel umher, dass ihm im Alter ein schweres Venenleiden plagte. Mangels eines spezifischen Schutzpatrons im Heiligenkosmos rufen Krebskranke Peregrinus auch zu ihrem eigenen Schutz heran.
Der wegen seines hohen Zigarrenkonsums an Gaumenkrebs leidende Sigmund Freud spazierte viele Jahre auf dem Weg zum Abendessen bei seiner Mutter an dem in einer Kapelle zitternden Barthaar einer Peregrinus-Statue vorbei. Das Objekt ist heute im nahen Kreuzgang zu finden.
Ein Peregrinus war für die römische Bürgerschaft der Fremde, der nicht ihre Rechte besass. Der Name tauchte 1950 als Signum des in Amsterdam gegründeten Verlags Castrum Peregrini auf, in dem sich verspätete George-Freunde zusammenfanden. Der Verlagsname bezog sich auf eine Wohnung an der Herengracht, in der sich ab 1942 verfolgte niederländische und deutsche Jugendliche meist jüdischer Herkunft versteckten. Die Untergetauchten imaginierten sich in der Kreuzfahrerburg Castrum Peregrini (Pilgerburg) bei Haifa.
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SONNTAG, 11. Mai
Maa Chinnamasta
Diese Hindu-Gottheit steht in einem krassen Gegensatz zu Laksmi, der goldene Aphrodite mit dem sinnlichem Körper, jüngere der Töchter des Königs der Berge, die aus dem Schaum des Milchozeans geborene rote Göttin des Glücks und des Reichtums, die sich Vishnu zur Frau und Gefährtin nahm. Maa Chinnamasta wirkt ihr gegenüber wie die kleine wilde Schwester der grausam schwarzen Kālī, die Wünsche erfüllen kann und auf dem Körper von Shiva tanzt.
Wir sehen eine nackte junge Frau mit einem Schwert in der einen und ihrem abgehackten Kopf in der anderen Hand. Das tantrisches Selbstopfer wird seit dem 7. Jahrhundert mit lebensspendenden Blutfontänen in Verbindung gebracht. Ikonographisch geschulte Augen erkennen die Parallelen zu den christlichen Märtyrerlegenden der Kopfträger, den Cephalophoren. Politisch geschulte Ohren wird die Figur an Georges Batailles Geheimgesellschaft Acéphale erinnern, mit der nietzscheanische Antifaschisten vor dem Zweiten Weltkrieg erfolglos versuchten, dem Todeskult des Nationalsozialismus eine aufklärerische Mythologie entgegenzusetzen.
Mir gefällt auch die Ähnlichkeit zur stillenden Maria lactans, eine Szene aus der Frauenmystik, in der Milch als Surrogat für den roten Lebenssaft zum Einsatz kommt. In Darstellungen ab dem 13. Jahrhundert reicht die Jungfrau Maria dem Heiligen Bernhard etwas von ihrer Muttermilch. Der genossene Schluck sorgt in diesem Fall für dessen legendäre Beredsamkeit.
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SONNTAG, 12. MAI
Tanit
Punische, also phönizische Muttergöttin der Fruchtbarkeit, geistert als Laubschatten durch die Grotten von Es Culleram im Nordosten der Insel Eivissa. Persönlich ist sie mir nur einmal erschienen, allerdings nicht an dieser Kultstätte, deren glockenförmige weibliche Terrakotta-Figuren schon vor hundert Jahren geplündert wurden.
Nein, sie erschien mir als südländische Frau um die Vierzig, langes schwarzes Haar, rotes Seidenkleid, in den Morgenstunden, bevor der Tag die Hitzeglut entfaltete, und schleppe in Begleitung von zwei Schäferhunden, die sie freundlich umkreisten, Wasserkanister durch das immergrüne Hartlaub der Macchia.
Über das Datum ihres Feiertags lässt sich streiten. Die römischen Feinde der Punier wären bei ihrem Kalenderchaos locker zu einer Handvoll möglicher Termine gelangt. Sie rechneten ursprünglich nach dem Mondjahr von 355 Tagen und liessen die Zählung am 1. März beginnen. Das Datum des Vollmondes wurde in die Mitte des Monats gelegt und dieser Termin mit »Idus« bezeichnet.
Das ergibt zu viele Möglichkeiten. Also suchte ich eine andere Lösung. Das humorbegabte Guanchenvolk der Kanarischen Inseln nennt die Göttin »Chaxiraxi«. Ihre neuheidnische Iglesia del Pueblo Guanche startet die Kalenderzählung jeweils im Juni und feiert Tanit darum im elften Mondmond April-Mai. Ich habe den 12. Mai gewählt, was diesen Monatsbeginn zum Höhepunkt des Sheilaistischen Heiligenjahrs macht.
Übrigens verstehen wir unter »Mondmond« heute zumeist etwas anderes, nämlich einen Trabanten des Erdbegleiters. Unser Mond hat zwar, soweit ich erkennen kann, keinen solchen Submoon. Naturwissenschaftlich spricht prinzipiell aber auch nichts dagegen. Schliesslich umkreist auch im Fall von Sonne, Erde und Mond ein Objekt ein anderes, während beide Objekte gemeinsam einen dritten Himmelskörper umkreisen.
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SONNTAG, 22. JUNI
Achatius von Armenien
Engel der Todesangst und der bösen Krankheiten, unerkannter, das heisst verborgener Proponent im Dürergemälde ›Marter der zehntausend Christen‹ (1508). Für gewöhnlich hat man als Besucher·in des Gemäldes im Kunsthistorischen Museum nur Augen für den Philosophen Conrad Celtis und seinen Malerfreund Albrecht, die uns mit dem Plauderspaziergang Gelassenheit inmitten eines Massakers vorexerzieren.
Den Anlass für das Gemetzel gibt aber Achatius, der anderswo mit einer Dornenkrone auf dem Kopf zu sehen ist. Er hat sich in den Augen der Täter durch die unverzeihliche Massenkonversion römischen Soldaten schuldig gemacht. Achatius war damit der christliche Vorläufer des indischen Politikers und Anwalts Babasaheb Ambedkar, der im Oktober 1956 in Indien mit einer Massenkonversion die Unberührbaren aus ihrem elenden Pariastatus befreit und die historische Rückkehr des Buddhismus auf den Subkontinent eingeleitet hat.
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SONNTAG, 20. JULI
Wilgefortis, Kümmernis
Volksheilige aus der Mitte des 15. Jahrhunderts in den damaligen Niederlanden. »Ich bin ein Christ des 15. Jahrhunderts«, soll Charles Péguy gerne von sich gesagt haben, was meint: vorreformatorisch, ohne Sakramente, Katholik unter Juden, wo allein er so katholisch sein konnte, wie er wollte, also auch unfähig zu beten und unfähig »Dein Wille komme« auszusprechen, weil der Schriftsteller sonst zerplatzt wäre vor Demut.
Wilgefortis ist eine Volksheilige aus diesem Geist, bärtig, aber nicht queer (am Planeten Transsexual in Transylvania), sondern hässlich wie der Mann an sich, um potentielle Vergewaltiger durch Maskulinität abzuschrecken. Eine Volksheilige : gekreuzigt : jedoch bekleidet, da die Fastnacktheit einer Heiligen die gottgewollte Geschlechterordnung aus der Bahn schleudern würde wie Félicien Rops den Heiligen Antonius.
Die volkstümlichste Darstellung der Kümmernis, die ich kenne, findet sich im Diözesanmuseum Graz-Seckau, und dort geht es mir, wie es Johanna Wagner vor Jahrzehnten in den ethnographischen Sammlungen Europas ergangen ist, wo diese weisse Mganga Msungu die »Fetischquälerei«, die Fetische in Museen langsam verhungern lässt, durch heimliches Füttern mit blutigen Papiertaschentüchern beendete.
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FREITAG, 26. SEPTEMBER
Kosmas und Damian
Syrisches Zwillingspaar aus der Gegend von Aleppo, das als Heilkundige und Geldverächter unentgeltlich und vorurteilsfrei Kranke behandelte. Wie passt das zusammen mit dem Faktum, dass die Brüder in der Renaissance die Schutzpatrone der superreichen Florentiner Patrizierfamilie Medici waren?
Natürlich gibt es auch heute noch Ärzt·innen, die selbstlos arbeiten und nichts mit ihrer Heilkunst verdienen, im Freiwilligendienst an Obdachlosen oder auf humanitärer Mission in den Archipelen des Südens. Zu 99 Prozent aber ist unsere Gesundheits- und Wellnessindustrie profitgetrieben, zu 99 Prozent ist der physische und der psychische Schmerz jetzt das verfluchte Gold des Montezumas.
Kosmas und Damian patronieren sämtliche Gesundheitsberufe bis hin zum Pferdedoktor. Garantiert anwesend sind sie auf Ikonen in Spitälern. Wenn Kosmas als Attribut ein Gefäss in der Hand hält, handelt es sich um eine Matula, ein Harnschauglas zur Prüfung der unergründlichen Wasserwege im menschlichen Körper.
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DONNERSTAG, 9. OKTOBER
Sibylle von Cumae
Noch eine Frau in der Grotte, eine Unterweltsführerin, Seherin, sterblich. Wichtig ist für das Verständnis einer Sibylle, dass ihre Wahrsagungen – im Gegensatz zum Orakel – in Ekstase vor sich gehen, worin sich eine Verbindung zu der ebenfalls aus Kleinasien stammenden Kassandra sehen lässt.
Der Eingang zur Unterwelt, die Sibyllengrotte, befindet sich an dem von dem grandiosen Architekten Johann Ferdinand Hetzendorf von Hohenberg errichtenen Obeliskenbrunnen. Doch am Grossen Parterre der Schönbrunner Schlossanlage zeigt die Sibylla Cumana, warum sie die wahre Beschützerin von uns Autor·innen ist. Man könnte sagen: Dort lehrt sie uns den rechten Umgang mit Verlagshäusern.
Die Priesterin Amaltheia verkaufte nämlich ein halbes Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung ihre neun Bücher der Prophezeihungen um den allerhöchsten Preis. Sie trieb die Summe für den kaufunwilligen König Tarquinius Superbus in die Höhe, indem sie die ersten drei wertvollen Schriften verbrannte und für die restlichen denselben Preis wie für alle neun verlangte.
Der Vorgang wiederholte sich ein zweites Mal, so dass am Ende nur mehr drei der neun Bücher zum verdreifachten Preis in den Besitz der Macht gelangten. Damit nahm die Tragödie ihren weiteren Verlauf, denn bei dem zähen Deal war auch die Warnung vor dem kommenden Brand des Tempeldepots und der Vernichtung der erworbenen Exemplare verloren gegangen.
Das gewählte Erinnerungsdatum ist ein Workaround. Eine Sibylle existierte schon im Altertum nicht allein, damals geisterten zwölf durch die Grotten. Der Ordensname der Zisterziensernonne Sibylle von Nivelles geht wahrscheinlich auf ihre berühmte Vorfahrin zurück. Sie war im 13. Jahrhundert vor dem Eintritt ins Kloster eine vornehme Stiftsdame im heutigen Orttignies in Belgien gewesen. Die »Erhebung der Gebeine« dieser Ersatz-Sibylle erfolgte am 9. Oktober.
DONNERSTAG, 25. DEZEMBER
Míthras
Míthras durfte sich ab dem 1. Jahrhundert »führender Soldatengott im Römischen Reich« nennen, das damals den gesamten Mittelmeerraum zu einem politischen Ganzen einigte. Aus seiner Verehrung an verborgenen Stätten, wo Ruhmverachtung und Seelenheiterkeit sowie die Vorstellung einer Wiedergeburt durch ein Untertauch-Ritual (Taufe) mit Blut kultivieren wurden, waren Frauen ausgeschlossen.
Der Mysterienkult der römischen Legionselite war für die Tauromaquia des Urstiers bekannt. Diese am stärksten verfeinerte Form des Tieropfers erreichte in den Míthräen ihren Höhepunkt: Hier stand die Opferung des Stiers für den ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen. Der Sonnengott ersticht den Stier als das erste erschaffene Tier in einem Art Schöpfungsakt. Míthras tut das in orientalischer Kleidung und mit abgewandtem Kopf. Aus dem ausströmenden Blut und aus dem Samen des Stieres entsteht die Welt.
Das Orgien Mysterien Theater des Hermann Nitsch vom 7. bis 9. Juni ist in unserer Zeit die lebendigste Erinnerung an diesen römischen Daseinskult.
© Wolfgang Koch 2025
Hinweis: Auf den Text folgt eine Endnote.