Mail Art – das klingt in einer Zeit, die in Notwehr gegen trendige Hashtags und rosa Filter eilig den Netzwerkstecker zieht, so attraktiv wie Typewriter Art, eine weitere grandiose Kunstrichtung der 1960er- und 1970er-Jahre. Vielleicht war uns ja mal die Vergangenheit schon einen Schritt voraus.
1962 erhob die »New York CorrespondAnce School« die Postkarte zum Kunstobjekt. Von da an waren per Schneckenpost versandte Briefe, Karten, Gegenstände und Dokumentationen von Aktionen, Ausstellungen und anderen Projekten nicht mehr wegzudenken im Alltag von Kunstschaffenden.
Mail Art war ausgesprochen demokratisch. Mail Art ermutige Absender·innen zur permanenten Kreativität mit Stift, Schere, Kleber, Stempel. Das Mysterium der Kunst, über das Museen und Galerien mit Argusaugen wachen, öffnete sich für einen Wimpernschlag der Kunstgeschichte unkommerziell in Richtung der Nichtkünstler·innen.
Netzwerk ohne Strom
Mail Art schuf ein kommunikatives Netzwerk. Bald war eine Szene rund um den Globus entstanden, die über das Postsystem miteinander kommunizierte, Kontakte knüpfte, Ereignisse anstiess. Die Kreativen hingen nicht mehr sklavisch an ihrer Heimat und balancierten lustvoll auf dem Seil zwischen Hoch- und Subkultur.
Mail Art betrieben muntere Leute, die Post meinten, wenn sie »Post« sagten, das heisst: Neuigkeiten ohne Profil, Junk und Blocklist … Unerwartetes auf Papier … Überraschendes von Bekannten und Unbekannten (!!) … Niegesehenes von jenen Erdenbürgern, die von ihrem ganz eigenen Kosmos besessen waren – und die nicht einfach nur Meinungen und Likes absonderten wie Fliegenschisse.
Privat entstanden handliche Kartensammlungen. In Diktaturen wie der DDR wurden in der Folge alle Briefe und Karten gesichtet, auffällige Post aussortiert und Stichproben durchgeführt; es gab Listen von Absendern und Empfängerinnen, die observiert wurden.
Mail Art hielt sich bis zur massiven Einwahl von Modems in das World Wide Web an vorderster Stelle der Kommunikation. Ich bin noch heute stolz darauf, in den 1980er-Jahren eine Karte von On Kawara, einem wesentlichen Künstler des 20. Jahrhunderts, erhalten zu haben. Kawara lebte in New York, er behauptete »Ich existiere nicht« und schritt täglich mit zwei Karten zum Posteinwurf.
Auch in Österreich schlossen sich instinktsichere Aussenseiter·innen dieser Kunstbewegung an und wurden Mail Artist·innen. Ich nenne den nonkonformistische Padhi Frieberger und Christel Fallenstein, Vertraute von Friederike Mayröcker in der »Hauptgasse der Poësie« in Wien, und eben Viktor Rogy, auch wenn der mit den Karten anderes im Schild führte als die Netzwerker in der Künstlerkunst-Ecke.
Kunstrebell in der Provinz
Rogy durchlief in seiner Arbeit verschiedene, teils widersprüchliche Perioden. Er war Tänzer, Reimdichter, Plastiker, Aktionist, Stukkateur, Objektguru, Zeichner, Designer, Fotograf ohne Fotoapparat, Installationskünstler, Innenarchitekt, Archikturkritiker, Agit-Propagandist gegen Rechts.
Die Skepsis an der Beschreibbarkeit des Realen und der Drang zur Intellektualisierung führten in den 1970er-Jahren zu einer Kunstrichtung des rein Gedanklichen: zur Konzeptkunst. Da Rogy keinen höheren Bildungsabschluss besass als den seiner Maurerlehre, stiess er auf dem Umweg von christlicher Mystik, fernöstlicher Spiritualität und Joseph Anton Schneiderfrankens Okkultismus dazu.
Der Alleingänger, der nach einem Parisjahr in der Provinz hocken blieb, suchte mit Genauigkeit bis zur Pedanterie nach Wahrheiten, die zu sagen sich lohnten, und sei es nur für eine ganz kleine Gruppe von Aufmerksamen im von den Zeitläuften gebeutelten Leben.
Rogy sah sich mehrmals in der Situationen eines Menschen, der öffentlich des Irrsinns bezichtigt wurde und hielt mit derselben Münze dagegen. Da kam ihm stets die Postkarte in den Sinn, mit der er ohne viele Wörter manches sagen konnte. Er schuf Bildwortkunstwerke, Wortkunstwerkbilder; und die Montage erschien ihm hierfür das kongeniale Mittel zu sein, vorgefundenes Material zu verarbeiten.
Laufend Sponsorenakquise
Mit der ersten Künstlerpostkarte war er schon als Jugendlicher in Kontakt gekommen, als er in Villach Ludwig Heinrich Jungnickel, Egon Schieles ehemaliger Lehrer und Atelier-Nachbar in Wien, kennenlernte. Der Tiermaler Jungnickel hatte den Krieg am Adriatischen Meer durchgestanden und sich in Opatija lange mit dem Verkauf von selbstgezeichneten Ansichtskarten über Wasser gehalten.
Auf die Idee, eigene Karten zu produzieren, stiess Rogy Jahrzehnte später durch seinen ersten Schüler Werner Hofmeister, der in den 1970er-Jahren auch als Werbegrafiker jobbte und viel mit Druckereien zu tun hatte.
Monat für Monat, Jahr für Jahr bestellte Rogy weitere Kartensujets und Einladungskarten bei lokalen Anbietern oder in Salzburg: bei Repro Onofre, Norea Repro, Verlag Schilcher, Druckerei Karl Bauer, GGA, bis es am Ende mehr als 600 Karten waren. Die Druckangaben vieler Ephemera lauten »Edition Rote Lasche / Edition Red Tongue«. Die Kosten der zumeist in der Auflage von 1.000 Stück produzierten Werke übernahmen der Künstler oder seine Sponsoren. Die Klagenfurterin Ulrike Semmelrock etwa hat den Print von zwei Rogysujets zu umgerechnet je 460 Euro finanziert.
In den späten Ausstellungen des Künstlers in Wien, Linz, Krems und an anderen Orten standen Reihen von Alurahmen mit den Karten im Raum. Um 1997 herum fiel ein magazinierte Teil des Kartenblocks in die Hände eines weiteren Rogy-Schülers. Klaus Oberhammer und Rogy konnten sich aber auf eine Systematisierung nicht einigen.
Viele Kartenmotive dienten dazu, anderen Menschen ihre Ahnungslosigkeit vorzuführen. Rogy ist als tanzender Fussball-Derwisch zu sehe. Er bejubelte im Druck französische Dichter und die Coups der kriminellen Bonnot-Bande in der historischen Ferne von 1911/13. Manche Karten verzichten zugunsten des Paratexts völlig auf formulierte Gedankengänge. Das wirkt, als könnte das, was gesagt werden muss, gar nicht gesagt werden.
Ersatz für den Werkkatalog
Im Kartenblock finden wir Fotografien von Objekten und Readymades wie Reitersporen oder anthropomorphen Holzstöcken, dann Bilder von Installationsmöbeln und Tellerspeisen mit poëtischen Titeln. Eine zweite Gruppe umfasst gezeichnete oder fotografierte Tiermotive. Eine dritte Gruppe Autoportraits: inszenierte Aufnahmen im Anzug, reproduzierte Ausweispapiere und Zeitungsausrisse von Doppelgängern.
Unter den Textkarten dominieren die bekannten Kellnerblock-Kritzeleien Rogys, von denen acht auch als Neonschriften ausgeführt und dann als Fotopostkarte aufgelegt wurden. Es gibt brüllend laute Botschaften wie »KAUGUMMI GEFÄLLIG / ICH KEIN WIEDERKÄUER« oder »POLITIK IST EIN LEICHENHAUS« (1984), und es gibt ganz leise Motive, wie den Mallarmé-Spruch »unser freund verlaine ist verschwunden« (1986) mit Parte.
Insgesamt vierzig Zeichnungen, Überzeichnungen und Scherenschnitte hat der Künstler als Postkarten drucken lassen. Die grösste Gruppe im Konvolut nehmen Portraits von Freunden, Mitstreitern und Stammgästen sowie von bewunderten Toten (Boxer, Komponist, Westerndarsteller) ein.
Acht Karten beschäftigen sich mit Fussball- und Eishockeysport; zehn explizit mit Politikern. Die mit dem Schriftzug »dingssoldaten« überschrieben Konterfeis von Landeshauptmann Leopold Wagner (SPÖ) und Bundespräsident Dr. Kurt Waldheim (ÖVP) erlangten unter den Schmähpostkarten mit poëtischer Lizenz die grösste Popularität.
Zwanzig Exemplare meiner Sammlung beschäftigen sich mit Architektur, dem Gebiet, auf dem der Aktionist in Villach und Klagenfurt jahrelang für öffentliche Erregung sorgte. 24 Karten zeigen abstrakte Motive, darunter die »möglicherweise kleinsten kühe der welt«, die Rogy 1946 gemalt haben will, sowie tanzende Affen, Monde und Glatzen.
Rogy war ein innerer Exilant, und das bestimmte seine Wahrnehmung. Wieviel seiner Karten er verkauft hat, ist schwer zu sagen. Ganz sicher waren es weniger aus dem Magazin, als er für ein Spendierachterl verschenkt hat. Rogy versandte seine Karten nur selten. Ihr Zweck war ein anderer. Sie dienten ihm als Ersatz für den Werkkatalog, den ihm die Kunstinstitutionen verweigerten. Im letzten Sommer seines Lebens, es war der Sommer 2003, verbrannte er etliche Kartonboxen aus dem angesammelten Berg in einer blauen Öltonne im Garten, weil einzelne Motive seinen strengen Massstäben nicht mehr genügten.
Rabiate Heiterkeit
Dass das Odeur von Rogys Kartenblock auch 21 Jahre nach seinem Tod nicht verdampft ist, beweist die neueste Produktion des Universaltalents Reinhard Eberhart, der sich als letzter von Rogys Schülern überregional auffällig zeigt. Der langjährige Herausgeber der Kärntner Faschingszeitung legt die aktuelle Ausgabe im 70. Jubiläumsjahr des Villacher Faschings in gleich siebzig Versandpostkarten auf.
Im Unterschied zum verstorbenen Maestro ist Eberhart viel daran gelegen, seine Einfälle auch unters Volk zu bringen. Dabei verlässt er sich nicht auf die geruhsame Postauslieferung in der analogen Welt allein. Er knickt ein vor dem Technokapitalismus und versieht jede Karte mit einem weiterführenden QR-Code. Mit 350.000 derart gebrandmarkten Exemplaren will er in den nächsten Wochen den Süden Österreichs überschwemmen. Der »Ideengeber und Faschingsgeneralintendant«, ein Heimatkünstler erfrischender Art, verteilt die Postkarten bei Faschingssitzungen, in Kaffeehäusern, auf Almhütten, in Restaurants und überall dort, wo Menschen gerne lachen.
© Wolfgang Koch 2025