vonWolfgang Koch 14.02.2025

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Was für ein Trauerspiel der deutsche Wahlkampf uns doch bietet! Als das drängendste Thema wird die Massenmigration verhandelt, für die gewiss keine der Wahllisten eine zukunftstaugliche Antwort hat. Die politische Klasse Deutschlands, ja ganz Europas lügt sich seit einem Jahrzehnt in die Tasche. Der Migrationsdruck aus Afrika und Asien wird sich in den nächsten 25 Jahren bis zum Vierfachen des heutigen Migrationsdrucks von Mexiko auf die Vereinigten Staaten steigern. Selbst eine AfD-Alleinregierung mit den Geschichtsrevisonisten aus Schnellroda wäre nicht in der Lage, die EU-Aussengrenzen und die nationalen Grenzen lückenlos zu schliessen und den illegalen Zuzug von Menschen zu stoppen.

Aus diesem simplen Grund gleicht die alles beherrschende Migrationsdebatte einem Schaukampf zur Abfuhr von Emotionen. Hochgekochte Gefühle dienen Parteieliten zur Erringung und Verfestung politischer Macht. Ihr realer Wert für die betroffene Bevölkerung tendiert gegen Null.

Wenn wir genau hinschauen, sehen wir: Der Bundestagswahlgang 2025 ist ein Ringkampf unter Blinden und Halbblinden auf dem Boden einer ausgehöhlten Demokratie. Am heutigen Tag zum Beispiel beklagen bekannte deutsche Wissenschafter·innen in grossflächigen Zeitungsinseraten »Rückstände in der Digitalisierung« des Landes – finanziert wird die Kampagne von Arbeitnehmervertreter·innen in Aufsichtsräten (Hans-Böckler-Stiftung) –, obwohl uns Mustafa Suleyman gerade sehr eindringlich klar gemacht hat, dass wir keine weitere Vertiefung der Digitalisierung brauchen, weil wir an der Schwelle einer neuen Technologiewelle stehen, in welcher fortgeschrittene KI und Biotechnologie gefährlich zusammenwachsen.

Die Geschwindigkeit des Tech-Monsters überrascht heute selbst ihre Erfinder. Schon morgen werden wir alle täglich mehr mit KI als mit anderen Menschen interagieren. Die Tiktok-Jihadisten sind nichts Kulturfremdes, sondern nur der frontalste Moment der allgemeinen Lage. Aber die eindringliche Warnung vor der Macht der Technosphäre, die uns gerade überrollt, ist im deutschen Wahlkampf nicht einmal in Ansätzen angekommen.

Was die dramatische Teuerung der Lebenshaltungskosten betrifft, spricht einzig und allein Sarah Wagenknecht den sinnlosen europäischen Krieg als Ursache an; ihr Bündnis verdient jede Proteststimme – vor allem die Wut auf den Bellizismus des Nato-Kartells aus Grünen, SPD, CDU/CSU und FDP. Der Rest der Wahlschlacht: Showkämpfe!, unbedachte Medieninszenierungen! Der Rest der Debatte: Symbolpolitiken! und abgrundtief sprachlose Résistance-Simulationen gegen eine Diktatur, die bereits vor achtzig Jahren unter dem grössten Blutzoll des 20. Jahrhunderts militärisch besiegt wurde.

Trotz dieser kollektiven Realitätsverweigerung, und nichts anderes ist dieser Wahlkampf, setzt sich ein illusionsfreier Mann, der Linksdemokrat Marco Bülow, der 19 Jahre lang für die SPD im Bundestag sass und heute Martin Sonneborns verdienstvoller Satire-Liste »die PARTEI« angehört, hin und schreibt schon ein zweites Buch über die Demontage der Demokratie durch den grassierenden Profitlobbyismus.

Bülows neuer Titel ›Korrumpiert‹ führt uns die Lächerlichkeit der politischen Karnevalsdebatten von einer ganz anderen Seite vor Augen. Zu Beginn verspricht der Autor »verständlich und nachvollziehbar« zu schreiben. Am Ende allerdings kommt er doch bei komplizierten Schlagworten wie »Kooperative Demokratie«, »Gesellschaftsrat«, »Demokratie-Café«, »Postdemokratie«, »Demo-Deleal«, »Feudalkapitalismus«, »Fairness-Versicherung«, »Robuster Realismus« an.

Die Brisanz des Buches liegt im anderen, im analytischen Teil des Werkes. »Auf die Vernunft des Menschen und der Politik ist kein Verlass mehr«, bilanziert Bülow. Um dies zu erkennen, muss man nicht 19 Jahre lang im Bundestag sitzen. Da hätte schon ein wenig Geschichtestudium geholfen. Axel Oxenstierna, schwedischer Reichskanzler des 17. Jahrhunderts, wird die Aussage zugeschrieben: »An nescis, mi fili, quantilla prudentia mundus regatur?« (Weisst du nicht, mein Sohn, wie sehr die Vernunft die Welt regiert?, in der Bedeutung von: Weisst du nicht, mein Sohn, mit wie wenig Verstand die Welt regiert wird?).

Überzeugend und von grossem Ernst ist ›Korrumpiert‹, wo uns der Autor die Wehrlosigkeit der liberalen Demokratie vor Augen führt. Bülow, der umwelt- und energiepolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion war, rekapituliert, wie die Energiepolitiker·innen der grossen Fraktionen stets der fossilen Lobby verbunden bleiben. Er erzählt, wie er freundlich umgarnt, manipuliert und fast selbst einmal zu einem Lobbyisten gemacht wurde. Wir hören, dass von seinen Kontakten im Parlamentsbüro mehr als ein Drittel auf die lächelnden Korruptionisten zurückging. »Ein Abgeordneter kommt in einer Sitzungswoche auf mindestens ein Dutzend Kontakte mit der Profitlobby.«

Bülow wurde dieses Treiben nach ein paar Jahren des Dauerbombardements durch Anwaltskanzleien, PR-Agenturen, Thinkthanks und freischaffende Lobbyisten, darunter etliche Ex-Politiker·innen, zu bunt. »Ich habe jedes Gespräch abgebrochen und später erst gar nicht mehr begonnen, wenn man mir nicht sagen wollte, wer der Geldgeber ist.«

Was genau beklagt Marco Bülow?

°° Es geht beim Lobbyismus auf der Seite der Politik nicht nur um Geld, sondern um weitere Vorteilsnahmen wie gesteigertes Standing, Machtgewinn, Absicherungen, Ego und Zukunftsaussichten.

°° Einige Lobbys wenden für die Beeinflussung Millionen von Euro auf und beschäftigen viele ausgebildete Mitarbeiter. Ein geringer Bruchteil hat zudem einen direkten Draht zu hochrangigen Politikern.

°° Wenn einem bezahlten Politiker vom wem auch immer etwas angeboten oder in Aussicht gestellt wird, damit er seine Stellung, seine Kontakte nutzt, um irgendeinen Vorgang, eine Entscheidung zu beeinflussen oder zu verhindern, dann ist das nichts anderes als Korruption. Und dabei muss weder Geld fliessen noch ein Vertrag geschlossen werden.

Haben Sie gewusst, dass im demokratischen Rechtsstaat Deutschland nur andere Parteien einen Mitbewerber wegen Korruptionsverdacht verklagen dürfen? Haben Sie gewusst, dass der Staat auf jeden Euro an Parteisspenden einer »natürlichen Person« noch 45 Cent Steuergeld drauflegt?

In der Arena der Politik treten Millionenbudgets gegen Spendenfinanzierung an. Die Mehrheit der Bevölkerung wird in diesem Machtspiel durch keine finanzkräftige Lobby vertreten. Bülow unterscheidet »Interessenvertretung«, die ein Gemeinwohlinteresse verfolgt, strikt von »Profitlobbyisten«, die auf den Profit eines Unternehmens oder einer Gruppe abzielen.

Alle sechs Sekunden ein Kind

Bülow bleibt bei all der Kritik an den demokratischen Verfahrensweisen gegenüber der strukturellen Gewalt im Weltmassstab nicht verschlossen. Er erinnert daran, dass die Zahl der Menschen, die weltweit an Hunger und Armut leiden, seit Jahren wieder ansteigt. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen stirbt alle sechs Sekunden ein Kind unter fünf Jahren, über das Jahr gerechnet fünf Millionen, – und denen ist es vollkommen egal, ob wir mit Verbrennern oder mit Elektroautos fahren.

„Eine neue Verfassung wäre ein wichtiges Ziel“ / Foto: Julia Bornkessel

Der Punkt ist: Wir in Europa haben nicht die geringste Chance dieses Unrecht aus der Welt zu schaffen, oder auch nur zu bremsen, solange die Macht nicht in den Händen des Volkes liegt, das heisst: in den Händen von politischen Repräsentanten, männlich oder weiblich oder egalwas, die sich dem Gemeinwohl verpflichtet fühlen und nicht privatunternehmerischen Interessen.

Dass Jurist·innen die mit Abstand grösste Berufsgruppe im Bundestag stellen, ist nicht zum Vorteil einer gerechteren Ordnung, sondern zum Nachteil der Demokratie. Bülow erklärt in gebotener Kürze die Cum-Ex-Geschäfte, bei denen Unternehmen am Ende die Kapitalertragssteuer zurückfordern, ohne sie je gezahlt zu haben. Er erinnert an den eindrucksvollen Rücktritt der obersten Staatsanwältin und Chefermittlerin Anne Brorhilker, die, unzufrieden über die Verfolgung der Wirtschaftskriminalität in Deutschland, im April 2024 ihr Amt niedergelegt hat und seither mit der Bürgerverein Finanzwende e. V. den Kampf »David gegen Goliath« führt.

»Heute«, so Bülow, »gibt es immer noch keine bundesweite Behörde zur Bekämpfung von Finanzkriminalität […] Die Regierungen entscheiden, wer ermittelt und mit was für einer Ausstattung. Mit unabhängiger Justiz hat das nichts zu tun. Und egal, welcher Einfluss ausgeübt wird: Wie kann es sein, dass Steuerbetrüger ihr Geld nicht zurückzahlen müssen, und dass Banken sich im grossen Stil an dem Raub beteiligen und trotzdem weiter Geschäfte machen dürfen?«

Ohne Wahl in politische Ämter

Bülow erinnert an die enttäuschten Erwartungen durch seinen Ex-Parteigenossen Olaf Scholz. »Als der Sozialdemokrat Scholz 2018 Finanzminister wurde, erwartete man eine progressivere Ausrichtung und eine Abkehr von der Politik seines Vorgängers Wolfgang Schäuble. Nichts dergleichen geschah. Im Gegenteil richtete er sein Ministerium noch stärker an der Finanzlobby aus, indem er wichtige Stellen mit Interessenvertretern und Drehtürgängern – zwischen Wirtschaft, Lobby und Politik – besetzte.«

Gab es einen öffentlichen Aufschrei in Deutschland, als mit dem Co-Deutschlandchef der Investmentbank Goldmann Sachs, Jörg Kukies, ein Profitlobbyist zum verbeamteten Staatssekretär im Finanzministerium gemacht wurde? Nein, den gab es nicht, den gibt es nie, und die Medienreaktionen, die jeden AfD-Rülpser kommentieren, schweigen schamlos zu solchen Vorgängen. – »Ein Investmentbanker an der Spitze des Ministeriums, verantwortlich für die Finanzarchitektur! Es ist ein weitreichender Irrtum, dass die meisten politischen Ämter gewählt werden.«

Bülow, ein Sisyhos im Sinne von Camus, der unverdrossen den Stein bergauf rollt, beklagt natürlich auch die »Finanzialisierung« der Wirtschaft, also, dass mit Geldgeschäften weit mehr Gewinn erzielt werden kann als mit der Produktion von Waren und Dienstleistungen. Er stimmt der österreichischen Millionenerbin Marlene Engelhorn zu, die ererbte 25 Millionen Euro durch einen Bürgerrat rückverteilen hat lassen. Beide beklagen, dass die Gesetzgebung heute eine Frage privater Vermögen ist.

Wie kann der Bundestag verhindern, dass Personen ohne Wahl in politische Ämter gelangen? Wie kann Deutschland sicherstellen, dass die Gesetzgebung keine Frage privater Vermögen ist? Das wären zweifellos drängende Frage im Bundestagswahlkampf 2025 gewesen. Das hätte auf der Agenda der deutschen Öffentlichkeit stehen müssen! Hier wären die Notbremsen zu ziehen, die Brandmauern zu errichten gewesen.

Aber nichts davon! Miosga, Maischberger, Klamroth – weder hart noch fair! Es herrscht immer und überall dasselbe Elend der Politik und ihrer selbsternannten Kontrolleure.

© Wolfgang Koch 2025

Marco Bülow: Korrumpiert. Wie ich fast Lobbyist wurde und jetzt die Demokratie retten will! Mit einem 9-Punkte-Plan zur Kooperativen Demokratie, 192 Seiten, Westend Verlag, ISBN: 9783864894848 , 20,- EUR

 

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